Schneegestöber (German Edition)
Ihre hellen, wasserblauen Augen musterten Kitty skeptisch. »Sie müssen geträumt haben«, sagte sie schließlich streng. »Wir haben kein kleines Mädchen hier im Haus. Es gibt überhaupt kein Kind in der Gegend.«
XV.
»Miss Rivingston, Mylord. Und Mr. Rivingston.« Der Butler nannte die beiden Namen mit eindrucksvoller Stimme. Dann verbeugte er sich steif und verließ den Raum. Mary Ann warf dem Earl einen verdutzten Blick zu. Das Zimmer, in das der Diener sie geführt hatte, war leer. Seine Lordschaft blickte sich um. War ihnen die Eingangshalle ungewöhnlich kahl vorgekommen, so schien dieser Wohnraum von Möbeln geradezu überzuquellen. Gleich neben der Tür stand ein großer Eichentisch mit schweren, klobigen Stühlen, an dem zwölf Menschen Platz finden konnten. Vor dem lodernden Feuer des Kamins befand sich eine kleine Sitzgarnitur, die so zierlich war, daß die schweren Eßmöbel sie beinahe zu erdrücken schienen. Ein Schachspiel lag auf einem der kleinen Beistelltische bereit. An den Wänden fanden sich Schränke und Kommoden so dicht gedrängt, daß kaum Platz für Bilder blieb. Eine Pendeluhr über dem Kaminsims schlug die volle Stunde. Fünf laute dumpfe Töne hallten durch den Raum. Da ging, wie von Geisterhand geöffnet, die weiße Flügeltür an der gegenüberliegenden Seite des Raumes auf, und der Rollstuhl mit dem Hausherrn wurde hereingeschoben. Ein Geisdicher in einer langenschwarzen Soutane führte ihn sorgsam, mit einer durch jahrelange Übung ausgezeichneten Perfektion über die Schwelle. Langsam und gemächlich schob der Geisdiche den Hausherrn näher. Mary Ann trat einen Schritt vor, um ihm entgegenzugehen. Der alte Viscount sprach kein Wort und beäugte die beiden unerwarteten Gäste mit finsterem Blick.
Die Augen unter den dichten buschigen Brauen waren eingehend auf den Earl of St. James gerichtet. Was er sah, schien ihm nicht zu gefallen. Dann schweifte der Blick weiter zu Mary Ann, und sein ernstes Gesicht hellte sich schlagartig auf: »Das ist tatsächlich die liebe Miss Rivingston!« rief er zu beider Erstaunen aus. »Kommen Sie näher, mein gutes Kind.« Sein rundes Gesicht leuchtete vor Freude, seine mit blauen Äderchen dicht durchzogenen Wangen schimmerten rosig. Er streckte Mary Ann beide Arme entgegen.
Diese beeilte sich, seine Hände zu ergreifen. Sittsam die Augen zu Boden geschlagen, versank sie in einen tiefen Knicks.
»Stehen Sie auf, mein Kind. Stehen Sie auf«, forderte Seine Lordschaft sie leutselig auf. »Lassen Sie sich ansehen. Ganz die junge Vera. Ich habe Ihre Großmutter gut gekannt, wissen Sie. Sie gleichen ihr sehr. Dieselben feuerroten Haare. Und sicherlich auch das selbe ungestüme Temperament. Wie ist Ihr Vorname, mein Kind.«
»Mary Ann«, antwortete Miss Rivingston schnell.
Der Earl hielt die Luft an. Wie konnte ihr nur dieser Fehler passieren? Miss Rivingston hatte sicher einen ganz anderen Vornamen. Bisher klappte doch alles wie am Schnürchen. Wie konnte die Detektivin nur so dumm sein, alles zu verderben. Doch Seine Lordschaft schien sich nicht an Miss Rivingstons Vornamen zu stoßen: »Mary Ann. Ich freue mich, Sie bei mir zu haben. Es ist so einsam hier auf Bakerfield-upon-Cliffs. Gott schickt Sie zu mir. Als Weihnachtsgeschenk möchte ich fast sagen.« Er kicherte über diesen Scherz und wandte sich an den Geisdichen, der noch immer regungslos im Schatten des Rollstuhls stand, die Hände um die Griffe an der Lehne geklammert. »Das ist Mary Ann, Veras Enkelin. Sie erinnern sich an Vera Rivingston, Kaplan?«
»Bedaure, Sir. Nein, Sir«, antwortete der so Angesprochene mit hoher,fast weinerlicher Stimme. Die kleinen Augen, hinter den dicken Brillengläsern versteckt, musterten Mary Ann ausgiebig.
»Du mußt näher gehen, mein Kind, sonst sieht er dich nicht. Kaplan Finch ist beinahe blind.« Mary Ann zögerte, tat dann jedoch, wie ihr geheißen. Der Geistliche streckte ihr die Hand entgegen und sagte mit ernstem Gesicht: »Menschen, die Mylord Freude bereiten, bereiten auch mir Freude. So heiße ich Sie denn auch willkommen, Miss Rivingston. Der Herr ist gütig und gerecht. Darum weist er den Irrenden den Weg.« Er reichte Mary Ann die kurzen Finger seiner weichen Hand. Mary Ann versank pflichtschuldig in einen Knicks. Sie hätte gerne gefragt, was die letzten Worte wohl bedeuteten. Doch da der Hausherr seine Aufmerksamkeit nunmehr St. James zuwandte, wagte sie nicht, ihn zu fragen.
»Und wie war Ihr Name, junger Mann?« erkundigt sich Lord
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