Schneegestöber (German Edition)
ein verwunschenes Schloß.«
Kitty drückte nun ebenfalls ihr Gesicht an die Scheibe. »Wie ein Gespensterschloß«, sagte sie und klang nicht gerade begeistert. » No me gusta. Es sieht düster aus. Geradezu bedrohlich.« Ein Frösteln lief über ihren Rücken.
»Du meinst, gefährlich?« Mary Ann wandte sich erschrocken ihrer Freundin zu.
»Unsinn!« fuhr St. James dazwischen. »Wie wollen Sie aufgrund einer Fassade wissen, ob hinter diesen dicken Mauern Gefahr lauert? Das erscheint mir viel zu früh, um sich ein Urteil zu bilden. Lassen Sie mich sehen.« Er beugte sich vor, um nun ebenfalls das Gebäude in Augenschein zu nehmen. Mit langsamem Tempo fuhr die Kutsche auf Bakerfield-upon-Cliffs zu. »Ein ganz normaler Bau. Türme und Zinnen sind in dieser Gegend keine Seltenheit«, erklärte St. James emotionslos. »Schließlich drohten stets Angriffe vom europäischen Kontinent. Die Gutsherren in dieser Gegend taten gut daran, ihre Häuser zu befestigen.«
Mary Ann nickte kleinlaut: »Sie haben sicher recht, Sir. Der Ärmelkanal ist an dieser Stelle besonders schmal. Und Hastings liegt nicht allzuweit entfernt.«
Kitty konnte dem Gebäude nichts Gutes abgewinnen. Sie liebte kleine verspielte Landhäuser mit weißen einladenden Fassaden und Heckenrosen, die sich zwischen den Fenstern bis zu den Dächern rankten. »Und ich sehe dennoch keinen Sinn darin, in einer Burg wie dieser zu wohnen«, erklärte sie hartnäckig. »Seit mehr als siebenhundert Jahren hat niemand mehr England erobern können. Auch wenn wir uns hier in der Nähe von Hastings befinden, sehe ich keinen Grund dafür, Adelssitze noch heute so zu befestigen, daß sie nichtsahnende Reisende erschrecken. Die Schlacht von Hastings war schließlich 1066, und seit dem Normannenherzog Wilhelm ist es keinem mehr gelungen, die Insel zu erobern.«
Es war nicht das erste Mal, daß sich der Earl über die Bildung derbeiden Mädchen wunderte. Es schien ihm, als seien die Dorfschulen bei weitem besser als ihr Ruf.
Die Kutsche war in den Innenhof des Hauses eingefahren und zum Stillstand gekommen. Es war nun vollkommen dunkel, und Al war kaum zu erkennen, als er den Schlag öffnete. Mit bangem Gefühl ließ sich Mary Ann aus dem Wagen helfen. Nur wenige Fenster im mittleren Flügel des Herrenhauses waren erleuchtet Diese waren schmal, langgestreckt und am oberen Ende zu Spitzbogen geformt. Die Seitenflügel lagen in vollkommener Dunkelheit. Unsichtbare Schatten schienen sich hinter den schwarzen Fensterscheiben zu verbergen. Waren da nicht schemenhafte Gesichter wahrzunehmen, die das Kommen der unerwarteten Gäste beobachteten? Und dort: Irrte sie sich, oder war das ein schwacher Lichtschein, ganz oben, im letzten Fenster des westlichen Türms? Ihr Blick verharrte kurz an dieser Stelle. Doch das Licht zeigte sich nicht mehr. Mary Ann riß sich energisch zusammen. Es war jetzt nicht an der Zeit, sich mit Gespenstern zu befassen. Sie mußte Lord Bakerfield gegenübertreten. Sie mußte erreichen, daß ihr und ihren Begleitern ein Quartier für zumindest diese Nacht angeboten wurde. Und sie mußte Lady Silvie Westbourne finden. Und zwar rasch. Dann würde sie diese unheimliche Gegend wieder verlassen können. Und dann – ja, was würde sie wohl dann unternehmen? Es war besser, nicht daran zu denken.
»Geht das schon länger so?« fragte eine finstere Stimme dicht an ihrem Ohr. Mary Ann fuhr erschrocken aus ihren Gedanken auf und blickte sich um. Der Earl hatte Kitty zwischenzeitlich aus dem Wagen geholfen. Sie hatte sich bei ihm eingehängt und gemeinsam schritten sie erhobenen Hauptes über den holprigen Vorplatz der Eingangstür des Hauptflügels zu. Neben Mary Ann stand Al, die Mütze so weit in die Stirn gezogen, daß man sein Gesicht in der Dunkelheit nicht einmal mehr erahnen konnte.
»Was geht so?« fragte sie ihn verständnislos.
»Na, St. James!« er deutete mit der Schulter in Richtung des Adeligen.
»Er flirtet schamlos mit Miss Stapenhill. Tut er dies schon länger?«
»Die ganze Zeit«, antwortete Mary Ann, die selbst über diesen Umstand alles andere als erfreut war. Dann schürzte sie ihre Röcke und beeilte sich, zu den beiden anderen aufzuschließen. Al blieb mit zusammengekniffenenLippen zurück. Er wartete, bis die drei Einlaß in das Haus gefunden hatten, dann ergriff er die Zügel der Pferde und führte sie zu den Stallungen, die angebaut an den kürzeren rechten Flügel ebenfalls in völliger Dunkelheit lagen.
Ein großgewachsener,
Weitere Kostenlose Bücher