Schneegestöber (German Edition)
hagerer Buder führte die Gäste in die Halle. Seine üppigen schlohweißen Haare bildeten einen eindrucksvollen Kontrast zum Schwarz seiner Livree, und sie hoben sich hell und leuchtend gegen das Dunkel seiner Umgebung ab.
»Ich werde Sie anmelden«, meinte er mit tiefer, leicht zittriger Stimme, nachdem ihm die Namen der Gäste genannt worden waren. Mit langsamen, gemessenen Schritten, den schmalen Rücken leicht nach vorne gebeugt, verschwand er durch eine Tapetentür. Die anderen blickten sich betreten um. Es war kalt in der zugigen Vorhalle. Im hohen, mit grauem Stein ummantelten Kamin brannte kein Feuer. Der Earl begutachtete mit kundigem Blick die Feuerstelle: »Mir scheint, hier ist in den letzten zehn Jahren kein einziges Mal Feuer gemacht worden«, stellte er fest und rieb mit raschen Bewegungen seine behandschuhten Hände aneinander. »Hoffentlich ist es in den anderen Räumen wärmer.«
»Das hoffe ich auch«, meinte Mary Ann. »Ich bin schon ganz durchgefroren.«
»Habt ihr die düsteren Gestalten gesehen?« Kitty wechselte flüsternd das Thema. Sie hatte ihre Hände in ihrem Muff vergraben und blickte ehrfurchtsvoll zu den Gemälden empor, die an allen vier Wänden der Eingangshalle angebracht waren. »So viele ernste Gesichter. Keine einzige der Damen zeigtauch nur den Schimmer eines Lächelns. Und erst die Herren! Zusammengekniffene Lippen, wohin man auch sieht. Wie düster und streng sie blicken. Und dazu die schwarzen Bilderrahmen. Also, wenn ich mich einmal malen lasse…«
Mary Ann stieß ihr unsanft den Ellbogen in die Seite. Als Kitty sich mit einem empörten Aufschrei ihr zuwandte, warf sie ihr einen warnenden Blick zu. Sich malen lassen. So eine Unvorsichtigkeit. Wie hatte es der arrogante Earl ausgedrückt? Sie waren »Frauen aus dem Volke«. Nur wenige Frauen aus dem Volke ließen sich malen. Ehefrauen reicher Kaufleute vielleicht. Sonst war es nur in adeligen Kreisen üblich, dafür Geld auszugeben.
»Sie wollen sich malen lassen, Miss Kitty?« fragte nun auch schon der Earl interessiert.
Mary Ann schüttelte unwillig den Kopf: »Natürlich will sie das nicht. Ich frage mich, warum wohl so wenig Kerzen brennen…«
Der Earl ließ sich von ihrem strengen Tonfall nicht abschrecken: »Das wäre aber schade«, sagte er lächelnd. »So eine Schönheit verdient es, für die Nachwelt festgehalten zu werden. Soll ich Sir Thomas Lawrence beauftragen, Sie zu malen?«
Mary Ann hielt die Luft an. Für ein Portrait von Sir Thomas Lawrence mußte man eine ordentliche Summe bezahlen. Sieher würde das der Earl nicht aus reiner Kunstfreude tun. Was war wohl die Gegenleistung, die er sich dafür vorstellte?
Kitty schienen derartige Gedanken fremd. Sie neigte schelmisch den Kopf und blinzelte vergnügt zu Seiner Lordschaft empor: »Das würde mich sehr freuen«, sagte sie strahlend.
In diesem Augenblick öffnete sich lautlos die Tapetentür, und der Buder kehrte in die Halle zurück. Er verbeugte sich knapp und sagte ohne den Anflug eines Lächelns: »Seine Lordschaft lassen bitten.«
Der Earl bot Mary Ann den Arm, den sie nur zu bereitwillig ergriff. Diese fürsorgliche Geste erstaunte und beruhigte sie gleichermaßen. An der Seite von St. James folgte sie dem Diener durch die Tapetentür.
Der Earl war innerlich bei weitem beunruhigter, als er nach außen hin zu sein vorgab. Wenn nur alles gutging. Hoffentlich spielte die Detektivin ihre Rolle glaubwürdig. Und hoffentlich fanden sie Silvie an der Seite ihres Großvaters vor. Er hatte keine Lust, auch nur eine Minute länger als unbedingt nötig in dieser kalten Burg zu verweilen.
Der Butler hatte sich umgedreht. »Sie warten in der Halle, Miss.«
Sein blaßer, schmaler Zeigefinger war anklagend auf Kitty gerichtet. Diese hatte ihre neue Rolle völlig vergessen und war hinter Mary Ann durch die Tapetentür getreten. Aufseufzend wurde sie sich bewußt, daß sie sich künftig wie eine Zofe zu verhalten hatte. Sie murmelte eine Entschuldigung und machte schweren Herzens kehrt. So ein Unsinn! Wie hatte sie nur auf die Idee verfallen können, eine Dienerin zu spielen. Noch dazu freiwillig. Dabei war sie so neugierig,wie die Begrüßung des Hausherrn vonstatten gehen würde. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als in die Halle zurückzukehren. Mit vorgeschobener Unterlippe blickte sie sich um. Nicht einmal einen Stuhl gab es, auf den sie sich hätte setzen können. Die Halle war bis auf eine schwere schwarze Truhe an der Seitenwand gegenüber dem
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