Schneemann
Praxis schickte die Haare weiter an das gerichtsmedizinische Institut im Reichshospital, das diese neue Methode für Vaterschaftstests nutzte. Nach zwei Monaten hatte sie Gewissheit. Was sie erlebt hatte - der Parkplatz, die schwarzen Spuren, der hektische Atem und der Schmerz -, war kein Traum gewesen.
Wieder sah sie zum Telefon hinüber. Natürlich hatte sich bloß jemand verwählt. Das Atmen, das sie am anderen Ende gehört hatte, stammte sicher nur von einem Anrufer, der ein bisschen überrascht war, jemand Fremdes in der Leitung zu haben, und nicht wusste, ob er auflegen sollte oder nicht. So musste es sein.
Harry ging auf den Flur und nahm den Hörer der Gegensprechanlage ab.
“Hallo?”, rief er, um Franz Ferdinand aus der Stereoanlage im Wohnzimmer zu übertönen.
Keine Antwort, nur das Brummen der Autos draußen auf der Sofies gate. “Hallo?”
“Hallo! Hier ist Rakel. Warst du schon im Bett?”
Er konnte ihrer Stimme anhören, dass sie getrunken hatte.
Nicht viel, aber doch genug, dass sie einen halben Ton höher klang und ihr Lachen, dieses wohlige, tiefe Lachen, ihre Stimme vibrieren ließ.
“Nein”, sagte er. “Schönen Abend gehabt?” “Geht so.”
“Es ist erst elf.”
“Die Mädels wollten alle früh ins Bett. Arbeit und so.” “Hm.”
Harry sah sie vor sich. Ihren neckenden Blick, das Glänzen des Alkohols in ihren Augen.
“Ich hab den Film hier”, fuhr sie fort. “Wenn ich ihn in deinen Briefkasten stecken soll, musst du mir allerdings die Tür aufmachen.”
” Ja, klar.”
Er hob den Finger, um den Türöffner zu drücken. Wartete.
Wusste, dass das jetzt das Zeitfenster war. Diese zwei Sekunden. Noch hatten sie alle Rückzugsmöglichkeiten. Er mochte Rückzugsmöglichkeiten. Und er wusste gut, eigentlich wollte er gar nicht, dass es geschah, weil das alles nur noch unübersichtlicher machte, zu schmerzhaft, um es noch einmal zu erleben. Aber warum klopfte es dann in seiner Brust, als hätte er zwei Herzen, warum hatte sein Finger dann nicht längst den Knopf gedrückt, damit sie aus dem Haus und aus seinem Kopf verschwand. Jetzt, dachte er und legte die Fingerkuppe auf das harte Plastik des Knopfes.
“Oder”, schlug sie vor, “ich kann sie dir auch eben nach oben bringen.”
Noch bevor er den Mund aufmachte, wusste Harry, dass seine Stimme merkwürdig klingen würde.
“Nicht nötig”, erwiderte er. “Mein Briefkasten ist der ohne Namen. Nacht.”
“Nacht.”
Er drückte den Knopf. Ging ins Wohnzimmer und drehte Franz Ferdinand auf. Laut. Versuchte, die Gedanken wegzublasen, seine idiotische Aufgeregtheit, und nur die Töne aufzunehmen, das Schnarren und Heulen der Gitarre. Wütend, schlicht und nicht immer gut gespielt. Englisch. Aber in die hektischen Akkorde mischte sich auch noch ein anderer Laut.
Harry drehte die Musik leiser. Lauschte. Gerade wollte er wieder lauter stellen, als er ein Geräusch hörte. Wie Sandpapier auf Holz. Oder Schuhe, die über den Boden schlurfen. Er ging auf den Flur und sah eine Gestalt durch das raue Glas der Tür.
Er öffnete.
“Ich habe geklingelt”, erklärte Rakel und sah ihn entschuldigend an.
“Ja, und?”
Sie wedelte mit der DVD-Hülle. “Die ging nicht in deinen Briefkasten.”
Er wollte etwas sagen, die richtigen Worte finden, doch da hatte er schon die Arme ausgestreckt, sie umschlossen und fest an sich gezogen. Er hörte den überraschten Laut, den sie von sich gab, und sah ihren Mund, der sich bereitwillig öffnete. Ihre Zunge streckte sich seiner höhnisch und rot entgegen. Im Grunde war wahrscheinlich sowieso jedes Wort überflüssig.
Sie schmiegte sich an ihn. Warm und weich. “Mein Gott”, flüsterte sie.
Er küsste sie auf die Stirn.
Der Schweiß bildete einen dünnen Film zwischen ihnen, der sie trennte und gleichzeitig auch aneinanderkleben ließ.
Es war genauso gewesen, wie er es vorhergesehen hatte. Wie beim ersten Mal, nur ohne die Nervosität, das vorsichtige Tasten, die unausgesprochenen Fragen. Wie beim letzten Mal, nur ohne den Schmerz und ohne ihr Schluchzen danach. Eine Frau kann einen Mann verlassen, mit dem sie guten Sex hat. Aber Katrine hatte recht: Sie kommt immer wieder zurück. Harry verstand aber auch, dass noch etwas anderes dahintersteckte. Dass es für Rakel ein letzter, notwendiger Besuch auf ihrem alten Territorium war, ein Abschied von dem, was sie beide einmal als die große Liebe ihres Lebens bezeichnet hatten. Bevor sie den Schritt in eine neue Epoche wagte. In
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