Schneerose (German Edition)
die Seele aus dem Leib, während ihre einzigen stummen
Zeugen der Mond und die Sterne sind. Welch Hohn, dass sie am Himmel stehen und
genauso schön und rein aussehen wie jede Nacht. Ihnen ist es gleich was Lia
widerfährt oder irgendeinem unbedeutenden Menschenleben passiert.
Aber Lia ist nicht die Einzige,
die schreit, auch Chasity lässt schlagartig von ihr ab, krümmt sich vor
Schmerz, jault und heult. Ihre Krone fällt in von Regen und Schnee
aufgeweichten Boden. Der Schlamm legt sich wie ein Mantel um die dunklen
Edelsteine und nimmt ihnen jeglichen Glanz. Die Königin übergibt sich direkt
vor ihren Untertanen. Es ist eine schwarze Masse von ekelerregendem Gestank.
Chasity greift sich an die Kehle, so als wäre sie selbst kurz vorm Ersticken,
während Lia nur noch gurgelnde Geräusche von sich gibt und Blut aus ihrem Hals
und ihrem Mund tritt. Doch niemand interessiert sich mehr für sie. Es ist nun
Chasity auf der alle Augen ruhen. Entsetzen paart sich mit Angst, nur Claudia
stürzt sofort an ihre Seite, greift sie an den Oberarmen und zwingt sie ihr
entgegenzublicken. Ihr Gesicht ist gezeichnet von Sorge und Panik. „Was hast du
nur? Was ist denn los?“, schreit sie völlig verzweifelt.
Chasity ist unfähig zu sprechen.
Sie ringt nach Luft, während immer mehr schwarze Flüssigkeit aus ihrem Mund
quillt und sich über ihre Haut und ihr Kleid verteilt. Wie Pech klebt es an ihr
und lässt die anderen zurückweichen.
„Es ist ihr Blut!“, kommt es von
Victor angewidert mit einem Blick von Chasity zu Lia.
Die Erkenntnis trifft Claudia wie
ein Schlag ins Gesicht. Mary hatte sie gewarnt. Orlando konnte Lias Blut nicht
trinken. Sie hatten ihr nicht geglaubt, wie so oft. Mary tut den ganzen Tag
nichts anderes als zu lügen, doch dieses eine unglückliche Mal hatte sie die
Wahrheit gesagt. Chasity weint blutige Tränen, während ihr Körper
unkontrolliert zittert. Ihre Fingernägel graben sich tief in Claudias Arme,
stechen in die weiße Vampirhaut. Claudia zögert nicht eine Sekunde und beißt
sich in ihr rechtes Handgelenk, blutend hält sie es an Chasitys Lippen. Die
anderen Vampire reißen empört die Augen auf. Wie kann sich Claudia nur so
demütigen? Vampire teilen ihr Blut nicht, dafür sind Menschen da. Doch Claudia
interessiert sich nicht für ihre Meinung oder ihr eigenes Ansehen, Chasitys
Leben ist alles, was für sie zählt. Angewidert wenden sich die Vampire von ihr
ab, haben bereits mit ihrer Königin abgeschlossen. Schwach saugt diese an dem
Arm ihrer treusten Freundin und ihr Körper erschlafft, das Zittern lässt nach.
„Helft mir! Sie muss sofort
zurück!“, hallt Claudias laute und unnachgiebige Stimme durch die Nacht.
Zögernd stehen die Vampire um sie
herum, unschlüssig was zu tun ist.
Claudias Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen. Ihre Stimme ist nur noch
ein Zischen. „Sie ist immer noch eure Königin, habt ihr das vergessen?“
Es ist nicht viel, aber es reicht,
um die Wachen dazu zu bringen Chasity aufzuheben. Einer von ihnen deutet mit
dem Fuß auf Lia, deren Brust sich kaum noch hebt. „Was ist mit dem Mensch?“
„Nix, lasst sie liegen. Die Tiere
werden sie sich schon holen.“, kommt es kalt von Claudia zurück, im Stillen
fügt sie jedoch hinzu, dass die Tiere sie am besten in tausend Stücke zerreißen
sollen.
Der Schmerz lässt nach und alles
wird kalt. Lia spürt weder das Blut, das aus ihrem Hals quillt noch den nassen
Laubboden unter sich. Die Stimmen verstummen und ihre Augen sind zu schwer um
sie zu öffnen. Jetzt ist es gleich vorbei und doch ist da kein helles weißes
Licht am Ende des Tunnels, nur eiserne Finsternis. Wird das jetzt immer so
sein? Ist das die Hölle? Was würde sie nur dafür geben noch einmal etwas fühlen
zu können? Was würde sie nur für einen letzten Kuss geben? Orlandos Gesicht
taucht vor ihr in der Dunkelheit auf. Sein dunkles Haar fällt ihm in die Stirn,
seine winterblauen Augen blicken ihr liebevoll entgegen und lassen sie an
glückliche Tage im Schnee voll Schlittenfahren und warmem Tee denken. Seine
vollen, perfekten Lippen legen sich zärtlich auf ihre.
„Trink!“, hört sie jemanden wie von ganz
weit weg sagen. Trinken? Warum trinken? Sie möchte lieber Orlando küssen. Doch
da ist er verschwunden und sie ist wieder alleine in der Einsamkeit. Etwas
Feuchtes presst sich gegen ihre wunden Lippen und der Schmerz holt sie zurück
in die Kälte. Rote Locken kitzeln ihre verschrammten Wangen. Als sie
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