Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
Das fand ich merkwürdig … Das ist nicht das Protokoll, das er zu Hause geschrieben hat, sondern eine Kopie der Notizen, die er während der Befragung gemacht hat. Nicht immer leicht zu lesen. Manches sind nur Kürzel, aber ich hab schon einige seiner Protokolle abgeschrieben … Also … Roland hat Kristina gefragt, das war noch am ersten Tag … gefragt, warum sie nicht zu Madame Darlan ins Haus gegangen sind. Hier steht: ›Geneviève sagte, dass sie was gesehen hat. Weiter oben an der Lichtung. Bevor ich kam.‹ Tja. Könnte ein Hinweis sein auf eine weitere Person am Tatort. Denn vorher hat Kristina ausgesagt, dass einer der Jungen hinter ihr hergelaufen ist. Wahrscheinlich Philippe. Jedenfalls einer, den sie am See aus den Augen verloren hat. Thomas hat ausgesagt, dass er und Philippe sich am See geprügelt haben. Philippe wurde also aufgehalten und kann unmöglich vor ihr an der Lichtung gewesen sein. Wen also hat Geneviève da an der Lichtung gesehen? Noch bevor irgendeiner von den anderen hätte da sein können?«
»Vielleicht hat sie sich einfach geirrt.«
»Möglich, Conrey. Wir wissen es nicht.«
Ohayon ist klar, dass es mit Spekulationen nicht getan ist. Er muss jetzt etwas anordnen, wieder Bewegung in die Sache bringen. »Also, Grenier. Das Wichtigste zuerst. Kristina hatausgesagt, dass Geneviève was auf den Kopf gefallen ist. Wenn das stimmt, muss das Ding in der Nähe vom Schuppen liegen. Das wäre deine erste Aufgabe.«
»Schön, und was soll ich machen?«
Was soll Conrey machen? Ohayon fällt nichts ein. Er ist aber jetzt Chef, also muss ihm was einfallen.
»Genau … Geh doch mal zum Pfarrer.«
»Das ist jetzt ein Witz, oder?«
»Die in Deutschland haben mir erzählt, dass sich Silvia Stühler schon mal selbst angezeigt hat. Roland und ich waren vor ein paar Tagen beim Pfarrer. Als wir gingen, kam eine Frau. Silvia Stühler. Damals hatten wir sie noch nicht auf dem Tablett, aber als sie gestern ihre Tochter abgeholt hat, hab ich sie wiedererkannt. Eine auffällig große Frau! Groß und trotzdem weiblich …« Grenier wirft Ohayon einen Blick zu. »Wie auch immer. Vielleicht weiß der Pfarrer was über sie. Ich meine, Roland ist ja auch deshalb so auf Kristina angesprungen, weil die Mutter sich in Widersprüche verwickelt hat.«
Conrey bestätigt Ohayons Feststellung.
»Gut. Wenn sich rausstellt, dass Kristinas Mutter dazu neigt, sich selbst zu bezichtigen, vielleicht hat sie das ja auf Kristina übertragen und deshalb gleich ihren Anwalt mitgebracht und so viel widersprüchliches Zeug geredet. Wenn wir Kristina entlasten, sind wir immerhin einen Schritt weiter.«
»Ist das denn überhaupt noch nötig? Sie hat doch schon zugegeben, dass sie an Genevièves Tod schuld ist.«
»Das war eine Anordnung, Conrey! Ihr könnt gehen, wir sind fertig.«
Sie ist allein. Sie hat es gerne so. Es gehört zu ihrem Charakter.
Es liegt zwar nicht mehr so viel Schnee wie vor ein paar Tagen, aber es ist noch genug, um alles zu verstecken. Und es sind minus acht Grad. Seit zwei Stunden krabbelt Grenier jetzt durch den Schnee. Immer im Zickzack vor dem Schuppenund manchmal auch ein Stück drum herum. Ihre Knie spürt sie schon nicht mehr. Hat doch keinen Sinn … Sie will aufstehen. Aber es geht nicht. Marie Grenier hat eine kurze Panikattacke. Ich werde hier genauso erfrieren wie Philippe. Statt aufzustehen, krabbelt sie weiter um den Schuppen herum, sucht weiter unter dem Schnee. Hebt jeden Gegenstand hoch, den sie ertastet. Begutachtet ihn. Legt ihn vorsichtig wieder hin, kriecht weiter. Sie denkt an Albert. Was war da passiert? Warum hatte sie das Gefühl, dass er nicht das war, was sie braucht? Weil das immer so ist bei dir! Während sie weiter durch den Schnee krabbelt, gehen ihr lauter unsinnige Gedanken im Kopf rum. Ich hab keine Ahnung von Männern, auch nicht von Menschen und erst recht nicht von Gefühlen, ich kann nur krabbeln und unter dem Schnee suchen … Sie fängt an zu kichern. Sie sieht sich von außen. Wie sie um den Schuppen herumkrabbelt, Gegenstände ertastet, sie anschaut und wieder ablegt. Wie Ostern … Marie Grenier fängt an zu weinen. Sie sucht weiter und weint. Die Tränen sind nicht heiß auf ihren kalten Wangen, sie spürt sie gar nicht. Sie spürt ihren ganzen Körper nicht mehr. Nur die Hände, die haben noch Gefühl. Das sind echt Superhand-schuhe, daraus sollten sie Anzüge für Polarforscher machen … Marie Grenier findet den Gedanken, dass Menschen in Handschuhen
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