Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
würde er selbst benutzen. Im Schaufenster des Juweliers steht also nur ein kleiner, brillantenbesetzter Schlitten, der von vier weißen Hirschen gezogen wird. Die Hirsche sind kein schlichtes Abbild, sie sind viel schöner als echte Hirsche. Bestimmt Hermelin! Und wie die Geweihe glitzern! Und vor den Hirschen ein Mann in prunkloser Tracht. Nicht der Weihnachtsmann! So etwas Ordinäres würde Luis Barye niemals tun. Ein Hirte mit seinem Licht. Es ist kein Licht, es ist ein schlichter Diamant. Die Landschaft hinter dem Hirten beschreiben? Da werden sie sich in der Zeitung wieder einen abbrechen! Auch das hat Tradition. Die verfrühte Weihnachtsstimmung von Luis Barye findet jedes Jahr in der Zeitung ausführlich Erwähnung. Wie immer wird dabei jedes Detail der Auslage, dieser Welt für sich, mit nüchterner, dem Werk angemessener Noblesse beschrieben.
Für alle, die in Fleurville aufgewachsen sind, beginnt mit diesem Hinweis der Zeitung die erweiterte Weihnachtszeit.
Luis Barye hat dekoriert!
Die Überschrift ist immer die Gleiche. Und Roland Colbert braucht das jetzt. Licht, Glanz, Verschwendung. Er drückt also seine Nase gegen das Schaufenster, betrachtet die luxuriöse Auslage, versinkt im Glanz und denkt an Juliet.
Juliet guckt durch die Glasscheibe des Backofens und fletscht die Zähne vor Lust. Das Hähnchen sieht gut aus. Sie öffnet den Ofen, zieht das Backblech heraus und stellt es auf den Tisch.
Seit fast zwei Stunden reden sie jetzt. Sina und sie. Und es ist ein richtiges Gespräch. Das heißt, eins, bei dem Fragenvorkommen und man sich gegenseitig zuhört. Erst geht es noch eine Weile um Hanna, weil Sina wissen möchte, wie sie war, bevor sie Juliet im Stich ließ, aber dann kommt Sina zu der Frage, die sie im Moment am meisten beschäftigt.
»Wem kann ich wirklich vertrauen, das frage ich mich andauernd!«
Leider. Auch Stiefmütter wissen nicht alles. Und so weichen sie vom Verrat dann doch ziemlich schnell zu politischen Themen aus und landen schließlich bei Fragen der Kunst. Dass sie dabei kaum etwas von dem leckeren Hähnchen essen, ist eigentlich ein gutes Zeichen.
Aber dann schlägt das Gespräch plötzlich um.
Juliet hat noch nie so deutlich gemerkt, was hinter Sinas Stimmungsumschwüngen steckt. Irgendeine irrationale Wut! Ein Drang, alles kaputt zu machen. Oder liegt es an ihr selbst? Im Zentrum dieser Vernichtung des schönen Gesprächs steht nämlich etwas, über das sie schon seit Tagen reden, etwas, was Juliet einfach nicht mehr hören kann, etwas, dass man im Volksmund als rotes Tuch bezeichnet:
»Was heißt das, du willst jetzt doch nicht zum Friseur? Wir haben gestern zwei Stunden diese ganzen Zeitschriften durchgeblättert, du warst total begeistert von der Frisur, und außerdem hast schließlich du gesagt, dass du zum Friseur willst, nicht ich.«
»Das war gestern! Aber heute ist was passiert. Einer hat was gesagt. Einer aus meiner Klasse. Was Ordinäres.«
»Und deshalb willst du jetzt nicht zum Friseur?«
Die lapidare Art, wie Juliet ihr Problem behandelt, ist ein Nadelstich. Jedenfalls platzt da plötzlich was raus aus Sina. Etwas, das pubertär und völlig unbegründet ist.
»Warum soll ich schön aussehen? Nur damit irgendwelche Typen mich geil finden? Du willst doch nur, dass ich mich aufrüsche und irgendwen aufreiße! Damit ich hier weg bin. Damit du mit meinem Vater allein sein kannst!«
Irgendwo ist auch mal Schluss mit Verständnis. Juliet wird also laut, Sina rennt aus der Küche. Kurz darauf knallt die Haustür.
Und dann ist da plötzlich eine Lücke.
Juliet weiß nur noch, dass sie Sina hinterhergeschrien hat. Und zwar so laut, dass ihr der Hals jetzt noch wehtut. Und dann war da so etwas wie eine schnelle Bewegung gewesen. Jetzt liegen das Backblech, die Hähnchenreste und die Teller auf dem Boden.
Roland Colbert schüttelt den Kopf, während er geht. Im Krankenhaus klang das ja alles vernünftig. Dass Professor Galinski angeblich gesetzwidrig handeln muss, um seinen jungen Patienten helfen zu können, kratzt an seinem Sinn für Recht und Ordnung. Er versteht den Deal mit diesem geheimnisvollen König. Aus der Sicht eines Arztes ist das vielleicht so was wie Pragmatismus. Nur ist sich der Kommissar nicht sicher, wie weit der Arzt über den Tellerrand seiner Güte hinausblickt. Und warum bitteschön hat der König etwas dagegen, Anmeldeformulare auszufüllen? Wie kommt er dazu, Aufgaben zu übernehmen, die Sache der Eltern sind? Irgendwie ist Roland
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