Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
kleiner. Außerdem: Warum sollte Camille hier rumlaufen? Die kocht doch bestimmt gerade Kaffee! Trotzdem hat er sich mächtig erschrocken, sich versteckt und seinen Blumenstrauß schnell hinter dem Rücken verborgen. Eine lächerliche Aktion, aber absolut typisch für Pascal Laval. Siebenundzwanzig Jahre alt ist er, und hat ein beachtliches Talent, sich das Leben schwer zu machen. Jetzt ist es gerade ganz schlimm. Gleich nämlich hat er einen schweren Weg … den schwersten Weg überhaupt! … vor sich. In zehn Minuten wird er an der Tür von Camille klingeln. Sie hat ihn schon zum vierten Mal eingeladen, und er ist tödlich in sie verliebt. Drei Mal hat sie schon richtig für ihn gekocht, mit Kerzen und allem. Aber was nimmt er sich da eigentlich heraus? Was bildet er sich ein! Nur weil eine Frau ein paar Mal nett für einen kocht, darf man als Mann da gleich vermuten, dass sie was will? Es führt trotzdem kein Weg dran vorbei! Er will, er muss es ihr heute sagen! Auch wenn es das Schlimmste bedeutet. Aber noch nicht sofort! Erst zündet er sich noch eine fünfte Zigarette an, wobei er fast das Einwickelpapier seiner Blumen in Brand setzt.
Sina begegnet auf ihrem Weg ins Stadtzentrum elf weiteren Männern. Fünf davon verhalten sich sonderbar. Drei dieser Männer nehmen sie wahr, einem von ihnen, einem Neunzehnjährigen ohne Ausbildungsstelle, würde sie »irgendwie gefallen«, was der jedoch nach vierzehn Sekunden wieder vergessen hat.
Im Zentrum der Stadt begegnet Sina einunddreißig Männern. Bei vier von ihnen kommt kurzfristig »Interesse« auf. Am längsten währt es bei Eric Lamour, einem Einundzwanzigjährigen,der vor Kurzem in der Stadtverwaltung angefangen hat. Dass er diese Position erreicht hat, ist ein »fragwürdiges Wunder«. Meint jedenfalls sein Vater. Eric Lamour war immer schlecht in der Schule, hatte Probleme mit den Lehrern. Bis er dann … ganz plötzlich, und keiner wusste, warum … die Kurve gekratzt hat. Er wurde so schnell vernünftig, so schnell gut in der Schule, dass es seinem Vater schon komisch vorkam. Jetzt hat der Sohn eine so gesicherte, vor allem eine so gut dotierte Position, dass sein Vater, ein alter Linker, im Grunde seines Herzens enttäuscht ist, weil er mit der Totalverweigerung seines Sohnes ja insgeheim sympathisiert hatte. Bei Eric Lamour dauert das Interesse an Sina immerhin fünfundvierzig Sekunden und ist eindeutig sexueller Natur. Er dreht sich sogar nach ihr um! Nach diesem kleinen Aussetzer fällt ihm allerdings ein, dass er ja hier ist, um Aufschnitt zu kaufen. Eric Lamour liebt teuren Käse und genießt es, sich teuren Käse leisten zu können. Also betritt er einen Käseladen. Hinter dem Tresen steht eine Verkäuferin, die ihm auf den ersten Blick gefällt.
Es hört nicht auf, sie sind überall.
Da! Wieder einer! In einem Citroën. Ein großer Wagen und die Art, wie der Mann gekleidet ist …! Ein wohlhabender Herr, Ende fünfzig und … Ja! In dem Moment, als Sina vorbeigeht, leckt er sich mit der Zunge über die Zähne! Luis Lefort wartet gerade vor einer Zahnarztpraxis auf seine Tochter und … Louis Lefort hatte nie Angst vor dem Leben. Aber vor Zahnärzten. Allein der Gedanke … Louis Lefort überprüft seine Zähne. Er macht das, indem er mit seiner Zunge darüberfährt.
Nichts also. Keine Gefahr? Oder doch?
Da! Ein Mann wird aktiv! Alexandre heißt er und hat, so wie er aussieht, vermutlich eine algerische Großmutter. Alexandre meint, Sina sei doch genau im richtigen Alter für besondere Erlebnisse. Also drückt er ihr einen Zettel in die Hand, auf dem ein Event angekündigt wird. Für Frauen ist der Eintritt frei, betont er zwei Mal und …
Nichts. Er verdient Geld damit, Girls anzusprechen.
Alles harmlos?
Oder war vielleicht doch einer gefährlich? Welcher?
Sina selbst fiel übrigens kein einziger Mann auf. Sie hat wirklich andere Probleme, als Angst vor Männern zu haben. Vielleicht muss sie auch keine Angst haben. Einen Satz wie: »Ich lebe so sicher, weil mein Vater seinen Job macht …« Nein. So was hat Sina noch nie gedacht. Noch nicht mal an das Wort »Sicherheit« hat sie bisher ernsthaft gedacht. Offenbar hat die Gesellschaft, in der sie lebt, die gefährlichen Männer ganz gut im Griff.
Er schließt die Augen, der Kopf kippt leicht in den Nacken … Roland Colbert ist müde.
Endlich …!
Endlich sitzt er ungestört in seinem Büro. Er hat alle gebeten, ihn in Ruhe zu lassen, braucht mal ein bisschen Zeit. Zum Nachdenken.
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