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Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Titel: Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Wittekindt
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hatten über den Ersten Weltkrieg gesprochen, wir … Es ging vom Stoff her eigentlich um den Expressionismus. Aber irgendwie sind wir dann auf den Ersten Weltkrieg gekommen, meine Schüler wussten fast nichts darüber, und ich hatte den Eindruck, wir müssten das Thema Krieg mit einschließen. Also habe ich ihnen erzählt, wie es zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam, und wie sich das Kriegsgeschehen dann zu der industriell organisierten Vernichtung von Menschen entwickelt hat. Danach habe ich der Klasse den Auftrag gegeben, eine Geschichte darüber zu schreiben. Ja, und Kristina gab dann diesen Aufsatz ab. Er trägt den Titel ›Plötzliche Raserei‹. Also: ›Die Reiterei hatte sich auf dem Paradeplatz vor dem Schloss versammelt und wartete auf die Ankunft des Kronprinzen. Die Soldaten trugen ihre hohen blauen Hüte, ihre goldenen Kordeln und ihre Säbel, und alle saßen sie auf Schimmeln. So warteten sie auf den Kronprinzen, und dann kamen die Knirpse anmarschiert.
    Die Knirpse, das waren noch keine richtigen Soldaten. Zwölf Jahre alt waren die erst. Und diese Kindersoldaten, die zogen nun schön ordentlich über den Platz, und keiner wusste später, wer ihnen gesagt hatte, dass sie das tun sollten. Und so kamen sie also auf ihrem Weg vor die Reiterei des Prinzen. Keiner der Männer auf den Pferden verzog eine Miene, denn sie warteten ja auf die Ankunft des Prinzen.
    Und so war die Entstehung der Welle von Anfang anunerklärlich. Die Schimmel stiegen hoch, und los ging es. Reihe für Reihe preschten sie vor, und die Säbel wurden aus den Scheiden gerissen und blitzten gold und silbern in der Sonne. Dann ging es den Knirpsen ans Leben. So irre ging es auf die Rücken der Kleinen, dass die richtig in Stücke gehackt wurden und ihr Blut gegen die Schimmel spritzte, und nach fünf Minuten war alles vorbei. Und als es vorbei war, entstand dieser Moment. Die Schimmel waren nervös und begannen sich in aller Stille zu drehen und wurden dabei immer verrückter, weil Pferde sich weigern, auf zerhackte Kinder zu trampeln. Zwei Minuten dauerte das Pferdeballett. Dann sammelte sich die Reiterei wieder und wartete weiter auf die Ankunft des Kronprinzen.‹ Ich sehe gerade, da fehlt noch ein Komma.«
    Ohayon verzieht keine Miene, sitzt genauso da, wie er die ganze Zeit dagesessen hat. Auch Roland braucht einen Moment, ehe er sich äußern kann.
    »Das ist ein deutscher Aufsatz? Sie unterrichten …«
    »Monsieur Agneau unterrichtet Deutsch, er ist in Grimauds aufgewachsen.«
    »Verstehe. Grimauds … Tja, Monsieur Agneau, das ist eine sehr drastische Schilderung, die … Mit so was hätte ich sicher auch nicht gerechnet, bei einem sechzehnjährigen Mädchen. Nun, wir sind keine Pädagogen, also frage ich Sie. Was ist Ihrer Meinung nach so beunruhigend an dem Aufsatz?«
    »Meinen Sie die Frage jetzt ernst?«
    »Ja. Ich möchte Ihre Einschätzung.«
    »Beunruhigend daran ist das völlige Fehlen von Mitgefühl, die Sinnlosigkeit des ganzen Vorgangs. Krieg ist das Verachtenswerteste und Schlimmste, was Menschen Menschen antun. Hier wird das Töten von Kindern beschrieben, als wäre es irgendein Vorgang.«
    Es dauert eine Weile, bis er merkt, was gerade mit ihm passiert. Er hat den eigentlichen Grund seines Hierseins völlig vergessen. Er referiert, als säße er vor seinen Schülern. Als ihm das klar wird, gefällt es ihm. Dass er gegen den Krieg,gegen Gewalt ist, zählt zu den Dingen, die für ihn unverrückbar feststehen. Was spricht dagegen, das er sich hier als der zeigt, der er ist?
    »Die anderen Schülerinnen schreiben also nicht solche Aufsätze.«
    »Nein, Herr Kommissar! Sie schreiben vielleicht: ›Dann kriegte er eins in die Fresse!‹ Aber nicht so was.«
    »Wie ist Kristina sonst?«
    »Nach außen hin ein ganz normales Mädchen. Vielleicht etwas zu Stimmungsumschwüngen neigend.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Genau das, was sie in ihrem Text geschrieben hat. Plötzliche, völlig unerklärliche Stimmungsumschwünge.«
    »Und warum glauben Sie, dass dieser Aufsatz etwas mit dem Tod von Geneviève Mortier zu tun hat? Weil es darin um Gewalt geht?«
    »Sie haben mich noch nicht verstanden. Das Problem ist nicht die Schilderung von Gewalt, sondern die kalte Distanz, mit der das geschieht. Außerdem stand in der Zeitung, dass neben der Toten ein Säbel lag.«

    Ohayon bringt Pierre Agneau zum Ausgang. Der Lehrer ist ziemlich aufgeregt. »Das war heute das erste Mal, dass ich in so einer Situation war. Haben Sie denn

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