Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
Vom Netzwerk:
hindurchsauste und hinter dem nächsten Hügel verschwand.
    Erst da stieß sie sich ab und folgte ihm, wild entschlossen, ihn einzuholen. Doch ihre Schwünge waren schwerfällig und ungelenk. Einmal passte sie nicht auf, und ihre Skispitzen kreuzten sich, worauf sie kurz anhalten und sich erst wieder sammeln musste. Es wurmte sie, dass Jake immer besser wurde, während sie Rückschritte zu machen schien. Vielleicht lag es daran, dass sie sich eben zum zweiten Mal eingebildet hatte, das Hotelfoyer sei voller Menschen; womöglich hatte das sie so durcheinandergebracht. Oder es lag an dem Baby, und ihr Unterbewusstsein zwang sie unwillentlich dazu, vorsichtiger zu sein. Jeder Sturz konnte gefährlich sein. Sie hatte gute Gründe, die Piste etwas langsamer anzugehen.
    Die Ehrfurcht gebietende Stille der Landschaft kroch drohend näher. Die Fichten und Kiefern, alle noch schneebeladen, spreizten die Glieder zu einem gefrorenen Ballett und atmeten geisterhaften Weihrauch aus dunklen, luftigen Kapellen, die sie mit ihren Zweigen schützten. Sie saugte die schneidend kalte, frostige Luft tief in die Lunge. Wachse, Baby, wachse. Wir schlagen dem Tod ein Schnippchen.
    Das sagte sie sich trotzig, dachte aber zugleich, es könne ein Affront sein gegen irgendeinen zornigen Gott der Unterwelt. Sie schaute die Piste hinunter. Ihr Schatten streckte sich gut zwölf Meter vor ihr im Schnee. Dann machte sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung aus, ein winziges Zucken am Rand ihres Gesichtsfelds.
    Neben ihrem Schatten waren noch andere.
    Rechts von ihr war ein Schattengewirr, mehr oder minder menschlich, das sich sanft hin und her wiegte. Die dunklen Gestalten waren im Schnee vor ihr klar zu sehen. Sie hielt den Atem an, wagte nicht, den Kopf zu drehen und sich umzusehen. Ganz deutlich spürte sie, dass dort etwas war. Menschen vielleicht. Vielleicht auch nicht.
    Den Blick fest auf die sich wiegenden Schatten gerichtet war sie sich sicher, die anderen wussten noch nicht, dass sie sie bemerkt hatte. Ihre Haut kribbelte und wurde rau wie Schmirgelpapier. Sie spürte, wie ihr die Tränenflüssigkeit in den Augenwinkeln gefror.
    Es waren vielleicht fünf oder sechs, die in einem Grüppchen zusammenstanden. Es schien höchst unwahrscheinlich, dass sie sie noch nicht gesehen hatten. Sie konnte hören, wie sie leise miteinander sprachen. Aufmerksam betrachtete sie die Umrisse der Schatten auf dem wächsernen Schnee. Sie waren zweifellos menschlich, hatten aber zusätzliche Gliedmaßen, die lang und dünn waren wie Stangen oder langstielige Trompeten, die vorn herausragten, womöglich aus ihren Mündern. Sie bewegten sich auf sie zu und schienen doch nicht näher zu kommen.
    Zoe stand schon mit den Skistöcken im Anschlag da. Sie lockerte Arme und Beine, streckte die Füße in den Skistiefeln und wappnete sich für die schnellste Abfahrt ihres Lebens. Im allerletzten Augenblick riss die den Blick von den wogenden Schatten los, und mit einem irren Gefühl tollkühnen Trotzes drehte sie den Kopf, um ihren Widersachern ins Gesicht zu sehen.
    Beinahe wäre sie hintenübergekippt. Da war nichts und niemand.
    Hinter ihr war nichts als der Bergrücken, und dahinter das gewaltige, Furcht einflößende, bröckelnde Horn eines weißen Gipfels, der wie ein Keil in den blauen Himmel ragte. Und dahinter nur die unerbittliche Sonne.
    Die Schatten waren verschwunden. Es war nichts da, und erst recht nichts, was einen Schatten werfen konnte. Dabei hatten vor wenigen Sekunden noch Leute – oder so was Ähnliches – hinter ihr gestanden. Sie hatte ihren Atem gespürt. Hatte sie mit leiser Stimme murmeln gehört. Und jetzt, nichts. Nur das Horn des Berges nickte ihr vollkommen gleichgültig zu.
    Fast wie in Schockstarre stand sie da und wartete. Die Vorstellung, sie habe sich bloß eingebildet, da seien andere Menschen – andere Wesen – gewesen, war einfach haltlos. Die wogenden Schatten waren auf dem weißen Schnee ganz deutlich zu sehen gewesen. Die kühle Luft hatte ihre Stimmen glockenhell herübergetragen. Sie hatte fast ihren Atem im Nacken gespürt.
    Und nun festzustellen, dass da nichts war, war beinahe ebenso schrecklich, als wäre etwas da gewesen. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob dieser Ort womöglich nicht von anderen Menschen, nicht von anderen Geistern, sondern womöglich von etwas, das man Dämonen nennen könnte, besiedelt war. Sie musste Jake einholen. Sie streckte die Arme und packte die Skistöcke und drehte die Skier auf dem Schnee

Weitere Kostenlose Bücher