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Schneetreiben

Schneetreiben

Titel: Schneetreiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkötter
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nichts Schlimmes
zugestoßen war.
    Sie schlug die Bettdecke zur Seite, nahm die Kerze und verließ das
Schlafzimmer. Durch die Milchglasscheibe der Wohnzimmertür schien das
flackernde Licht des Kaminfeuers und warf zittrige Schatten an die Wand über
der Treppe. Lautlos glitt sie die Stufen hinab und schlich an der Tür vorbei in
die Küche. Dort holte sie ein Glas aus dem Schrank und schenkte sich
Mineralwasser ein.
    Gerade wollte sie zurück nach oben, als sie ein Geräusch hörte. Es
war ein dumpfes Pochen oder Klopfen. Nicht aus dem Wohnzimmer, sondern aus dem
Keller musste es gedrungen sein. Sie hielt den Atem an und lauschte. Doch das
Geräusch war wieder verklungen.
    Sie lief in den Flur. Die Polizisten hatten offenbar nichts gehört,
ihre ruhigen, körperlosen Stimmen schwebten unverändert durchs Haus.
    Kurz erwog sie, die beiden zu alarmieren, aber ein Gefühl sagte ihr,
dass es besser wäre, zunächst einmal selbst nachzusehen. Auf Socken schlich sie
hinunter in den Keller. Sie öffnete zaghaft die Feuertür und blickte in den
Kellerraum hinein. Neben der Heizungsanlage standen die Gartenmöbel. Dahinter
zwei Fahrräder. Sonst war nichts zu sehen.
    Das dumpfe Klopfen kehrte zurück. Es erfüllte mit einem Mal den
ganzen Raum. Sie trat hinein und leuchtete mit der Kerze zum Kellerfenster. Da
war Martin. Jenseits der matten Scheibe leuchtete das blasse Gesicht ihres
Jungen. Er versuchte, von außen das Fenster zu öffnen, und winkte ihr aufgeregt
zu.
    Dorothea Probst warf einen Blick zurück zur Treppe. Im Haus schien
alles unverändert ruhig. Mit einer schnellen Bewegung schloss sie die Tür,
stellte die Kerze ab und öffnete das Kellerfenster. Martin ließ sich
schwerfällig durch die schmale Öffnung plumpsen und fiel donnernd auf den
Fußboden.
    »Mein Gott, Junge! Was ist passiert?«
    Er hustete, hielt sich seinen offensichtlich schmerzenden Arm und
blickte sie gehetzt an.
    »Ich bin vor der Polizei geflohen. Sie hätten mich fast geschnappt.
Ich bin über ein abgerissenes Starkstromkabel gesprungen. Um ein Haar wäre ich
verbrannt.«
    Da war so viel Angst in seinen Augen, dass es ihr den Atem nahm. Er
musste Schreckliches durchlebt haben. Du hast ihn verraten, sagte sie sich.
Deinetwegen geht es ihm so schlecht. Weil du ihm die Polizei auf den Hals
gejagt hast.
    Doch war ihr eine Wahl geblieben?
    »Du musst mir helfen«, sagte er eindringlich. »Bitte!« Er fiel ihr
in die Arme. »Ich hab solche Angst.«
    Dorothea Probst hielt ihn fest.
    »Du hättest dich stellen müssen«, sagte sie schwach. »Das ist die
einzige Möglichkeit. Was soll denn sonst werden?«
    »Ich weiß nicht. Bitte, du darfst der Polizei nichts sagen. Du musst
mich verstecken.«
    Er sah zu ihr auf, und sie glaubte einen Moment lang, bis auf den
Grund seiner Seele zu blicken.
    »Bitte«, flehte er.
    Dorothea Probst seufzte schwer. Konnte sie seinen Wunsch erfüllen?
Wo würde dies alles hinführen? Oben im Wohnzimmer saß die Polizei, überall
wurde nach ihm gefahndet, und jeder, der ihn deckte, machte sich strafbar.
    Aus seinem Gesicht war jede Hoffnung gewichen.
    »Was ich auch anfasse, misslingt«, sagte er tonlos.
    »Nein, das darfst du nicht sagen.«
    »Aber es stimmt doch. Alles entgleitet mir. Wer kann mir denn jetzt
noch helfen?«
    Sie sah auf ihn hinab und erinnerte sich plötzlich an einen Moment,
als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Fünf Jahre war er alt und bereits
seit fast einem Jahr bei ihnen. Es war das erste Mal gewesen, dass er sich
nicht gegen ihre Umarmung gewehrt hatte. Nach den langen Monaten, in denen sie
und ihr Mann alles getan hatten, um ihm seine Angst und seine Scheu zu nehmen. Und
dann, eines Abends, hatte er die Umarmung zugelassen, dünnhäutig, verletzbar
und doch voller Vertrauen. Da hatte sie beschlossen, ihn niemals mehr allein zu
lassen, ganz egal, was geschehen mochte.
    Sie strich ihm liebevoll übers Haar.
    »Schhht, ich bin ja hier«, flüsterte sie. »Es kann dir nichts
passieren. Hörst du? Nicht, so lange ich bei dir bin.«
    Sie spürte, wie sein Herzschlag sich verlangsamte. Sein ganzer
Körper entspannte sich. Er kam zur Ruhe.
    »Schhht. Alles ist gut.«
    Sie würde eine Nacht darüber schlafen. Morgen war es immer noch früh
genug, zu entscheiden, was geschehen sollte.
    Eines wurde ihr in dieser Nacht jedoch klar: Sie würde ihren Sohn
kein zweites Mal verraten.

20
    Es schneite immer noch. Mit einem metallischen Geräusch
ließ Hambrock die Lamellen zurück an ihren Platz schnellen

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