Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
das Schachspielen beigebracht hatte, und schloss mit den Worten: »Er ist gebürtiger Engländer, vor drei Monaten entlassen worden und wohnt wieder bei seiner Ex im Westend.«
»Danke«, sagte Winnie und sah flüchtig auf die Uhr. »Es wird ein paar Minuten später bei mir.«
»Viel Erfolg«, lachte Bredeney.
Sie sagte nicht »Danke«, weil sie mal gehört hatte, dass dergleichen Unglück bringe. Aber sie lächelte, als sie weiterfuhr.
Die Adresse, die der Kollege ihr genannt hatte, gehörte zu einer düsteren Erdgeschosswohnung in der Bertramstraße, und sie hatte Glück: Jeremy Carson, der mehrere Jahre wegen bewaffneten Raubüberfalls und Nötigung abgesessen hatte, war tatsächlich zu Hause. An der schmutzigen Haustür hing ein Kranz aus Tannengrün und Schleifen, und irgendwo in einer der anderen Wohnungen dudelte ein Weihnachtslied.
Carsons Ex, eine bleiche Magersüchtige in den Vierzigern, ließ Winnie ein und wies, nachdem diese ihr ihren Dienstausweis unter die Nase gehalten hatte, mit dem Kinn auf die angelehnte Wohnzimmertür, hinter der der Fernseher in beträchtlicher Lautstärke vor sich hin brüllte.
»Er is’ da drin.«
»Vielen Dank.«
»Hat er wieder was ausgefressen?«
Winnie lächelte. »Nicht dass ich wüsste. Es geht um einen ermordeten Mithäftling.«
Die Frau schenkte ihr ein abgestumpftes Nicken und zog sich dann eilig in eines der anderen Zimmer zurück.
»Herr Carson?«, fragte Winnie, indem sie vorsichtig den Kopf um die Ecke schob.
»Hm?«
»Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
Carson, ein erstaunlich zierlicher Mittfünfziger mit graumeliertem, tadellos gestutztem Vollbart, wandte den Kopf. »Wo ist Helmer? Isser krank?«
»Verzeihung?«
Er kniff die Augen zusammen. »Sie sind keine Bewährungshelferin, oder?«
»Nein, das nicht.« Winnie streckte ihm den Ausweis entgegen, den sie noch immer in der Hand hielt.
»Kripo?«
»Genau. Es geht um einen ehemaligen Mithäftling von Ihnen.« Winnie zögerte. »Ich glaube, einer meiner Kollegen hatte sich da schon …«
»Achim, was?« Sein britischer Akzent fiel kaum auf. »Also, dass ’n Weichei wie der mal so ’n Ende nimmt …« Er schüttelte den Kopf, und endlich machte er jetzt auch den Fernseher leiser.
»Es mag sich ein wenig komisch anhören«, begann Winnie, »aber ich bin hier, weil ich etwas über Herrn Ackermanns Spielgewohnheiten wissen will.«
Der Brite runzelte die Stirn. »Der war aber kein Süchtiger, wenn Sie das denken. Er hatte nie ’n Interesse, um irgendwas anderes als um die Ehre zu spielen. Wenn überhaupt. Und seine Fähigkeiten waren mehr als lausig. Ganz egal, ob’s um Karten oder Schach ging.«
Interessant, dachte Winnie. »Stimmt es, dass er Schach überhaupt erst von Ihnen gelernt hat?«
Carson nickte nicht ohne Stolz. »Wissen Sie, Lady, man kann im Knast schon ganz schön irre werden hier oben.« Er tippte an seine Stirn. »Da müssen Sie sich was suchen, was Sie ablenkt. Und ich … na ja, ich hab eben immer gern Schach gespielt. Hab’s von meinem Vater gelernt. Und der von seinem.«
»Wie kam es dazu, dass Ackermann Interesse daran zeigte?«
»Er beobachtete uns, wenn wir im Gemeinschaftsraum spielten. Oh Mann, der Typ hatte echt ein Rad ab damit. Und einmal …« Die Erinnerung legte seine Stirn in tiefe, missbilligende Falten. »Einmal fing er plötzlich an zu lachen. So richtig irre, verstehen Sie? Scheiße, der Typ war erst gar nicht zu beruhigen.«
Winnie setzte sich ungebeten auf einen der abgenutzten Sessel. Das hier war definitiv zu spannend, um stehen zu bleiben. »Und dann?«
Carson hob die Arme. Er trug nur ein kurzärmliges T-Shirt, und Winnie fielen die zahlreichen Narben auf seinen muskulösen Unterarmen auf. »Dann fragte er mich, ob ich ihm erklären könne, wie das Spiel geht. Und ich sagte: Ja, Mann, kann ich. Aber ich hab keinen Bock dazu, kapiert? Und er sagte: Und was, wenn ich dich bezahle?«
»Ackermann zahlte Ihnen Geld dafür, dass Sie ihm das Schachspiel beibrachten?«, resümierte Winnie fassungslos.
Carson nickte. »Irre, was? Dabei hat er nie mit anderen gespielt. Auch später nicht. Sobald er’s gelernt hatte, interessierte ihn das Spiel nicht mehr die Bohne. Er wollte nur wissen, wie’s geht.«
Winnie blickte nachdenklich auf ihre Hände hinunter. »Erinnern Sie sich zufällig daran, ob er sich für etwas, das Sie ihm erklärten, besonders interessiert hat?«
»Der Typ konnte
gar
nichts, was Schach angeht«, lachte Carson. »Und er
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