Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
für einen Moment erinnerte sie Winnie an eine Löwenmutter, die ihr Junges beschützt.
Wenigstens das, dachte sie, überrascht vom Ausmaß der Erleichterung, die die Erkenntnis in ihr wachrief. Wenigstens hat Olivier auf den letzten Metern seines Lebens jemanden, der auf ihn aufpasst.
Ihre Augen fingen einen letzten, schon halb umwölkten Blick des Anwalts auf.
»Bitte«, sagte sie.
»Fragen Sie …« Seine transparenten Lider wurden schwer.
Winnies Augen wanderten hinauf zu dem Fläschchen, aus dem unablässig barmherziges Vergessen rieselte. »Wen soll ich fragen?«
»Die Schwester.« Seine Worte waren kaum zu verstehen. »Fragen Sie seine Schwester.«
5
Auf der Fahrt zurück ins Präsidium war Winnie tief in Gedanken versunken. Kaspar Olivier hatte sich als genau das erwiesen, was Werneuchen ihr angekündigt hatte: ein todkranker Mann mit einem brillanten Verstand. Was nicht ins Bild passte, war dieser letzte Hinweis, den er ihr gegeben hatte.
Fragen Sie seine Schwester …
Wenn er die Familie wirklich so gut gekannt hätte, dachte Winnie, dann müsste er doch wissen, dass sie schon lange tot ist. Oder? Andererseits war Olivier bereits ein Jahr vor dem Abitur mit seinen Eltern nach Stuttgart gezogen und damit – das sagte er selbst – auch weitgehend aus dem Dunstkreis der Beltings verschwunden. Vielleicht hatte er tatsächlich nicht mitbekommen, dass die Familie ein Kind verloren hatte …
Und noch etwas gab ihr zu denken: dass der ehemalige Strafverteidiger an anderer Stelle gesagt hatte, Mario Beltings Schwester habe »sowieso keine Rolle« gespielt. War er verwirrt? Oder führte er sie absichtlich in die Irre? Hatte sie sich, was diesen verdammten Fall betraf, nicht schon viel zu weit vom rechten Pfad wegführen lassen? Sie hatten einen sehr realen toten Altenpfleger. Aber womit beschäftigte sie sich? Mit uralten Korruptionsvorwürfen. Mit einer Organisation, die es vielleicht gar nicht gab. Mit alten Märchen, alten Erinnerungen, alten Hirngespinsten und eingebildeten Gestapo-Leuten.
Ihre Finger trommelten frustriert auf das Lenkrad ein, während der Radiosprecher neue, in Regen übergehende Schneefälle ansagte. Wie lange wird es Kaspar Olivier noch gelingen, den Feind in seinem Körper in Schach zu halten, überlegte Winnie. Bis morgen? Bis Weihnachten? Sie hatte keine Erfahrungen mit Krebserkrankungen, dafür stolperte sie unvermittelt über eine Formulierung, die sie in Gedanken gewählt hatte: in Schach halten …
SCHACH .
Schon wieder ein verdammtes Spiel!
Winnie kramte ihr Handy hervor, rammte es in die Halterung der Freisprechanlage und drückte Werneuchens Kurzwahl. »Irgendwer hat doch erzählt, dass Ackermann während seiner Haftzeit Schach gelernt hat, oder?«, fragte sie, nachdem sich der Kollege gemeldet hatte.
»Ja. Und?«
»Mit wem hat er gespielt?«
»Hä?«
Seine Ahnungslosigkeit ließ Winnie laut auflachen. »Was ich wissen will, ist, ob es unter seinen Mithäftlingen irgend einen gab, mit dem er bevorzugt gespielt hat.«
»Woher soll ich das wissen?«, stöhnte Werneuchen.
»Doch, ja. Da war was«, hörte sie in diesem Augenblick Bredeneys Stimme aus dem Hintergrund. »Irgendein englischer Name war das, der müsste eigentlich auch in meinen Notizen stehen.«
»Dann sei doch bitte so gut und sieh nach«, bat Winnie. »Ich möchte mit dem Mann sprechen.«
Zu ihrer Überraschung fragte keiner der beiden Kollegen: »Wozu?«
Stattdessen sagte Werneuchen nur: »Geht klar, wir melden uns gleich wieder.«
Im Weiterfahren dachte Winnie, dass dieser Fall aus unerfindlichen Gründen ihren Status verändert zu haben schien. Mehr noch: Zum ersten Mal seit ihrem Dienstantritt im KK 11 hatte sie das Gefühl, dass man sie wirklich für voll nahm. Paradoxerweise schien Verhoeven im selben Maß, in dem sie an Respekt gewann, ins Abseits zu geraten. Niemand sprach es aus, aber er wurde längst nicht mehr jedes Mal gefragt, wenn sie etwas haben oder wissen wollte. Diese Art von Rückversicherung, die zu Beginn selbstverständlich gewesen war, schien niemand mehr für nötig zu befinden. Und das, obwohl Verhoeven nach wie vor der diensthöhere Beamte und ihr direkter Vorgesetzter war.
Seltsam, dachte sie, irgendwie sitzt er im Moment zwischen allen Stühlen. Dabei hatte sie immer gedacht, dass nur sie selbst ihren Platz noch nicht gefunden hatte …
Das Klingeln ihres Handys beendete ihre philosophischen Betrachtungen. Bredeney nannte ihr den Namen des Häftlings, der Ackermann
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