Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
absichtlich von einer Frau sprach.
»Auf der anderen Seite ist unsere Schwester mit der Pflege ihres Opfers betraut, das sich vielleicht auch noch in einem Zustand akuter Hilflosigkeit befindet.« Dr. Kerr sah sich in den Gesichtern der Beamten um. »Versetzen Sie sich in die Lage einer solchen Frau. Ihr droht gewaltiger Ärger, und zugleich ist ihr bewusst, dass sie nur ein Medikament verwechseln müsste, um sich diesen Ärger von einem Tag auf den anderen vom Hals zu schaffen. Sie könnte der betreffenden Patientin oder dem betreffenden Patienten auch einfach Luft in die Vene spritzen, denn sie weiß natürlich schon aus beruflichen Gründen, dass so was praktisch nicht nachzuweisen ist.« Ihre Hände hoben sich zu einer wegwerfenden Geste. »Oder aber unsere Schwester rückt das Asthmaspray ein Stück beiseite, sodass der ans Bett gefesselte Patient es bei einem nächtlichen Anfall nicht erreichen kann. Oder sie lockert die Schrauben des Haltegriffs in der Dusche.« Die Psychologin hob triumphierend den Kopf. »Es gibt viele Arten zu töten. Und viele davon sind nur sehr schwer oder gar nicht nachzuweisen.«
»Okay«, sagte Verhoeven. »Aber gab es in Ackermanns Fall denn Hinweise auf Schulden oder notorische Geldknappheit?«
Werneuchen schüttelte den Kopf. »Er war immer recht klamm, aber weder verschuldet noch in erkennbaren Schwierigkeiten.«
»Und er hatte auch keine drogensüchtige Freundin?«, fragte Winnie Heller halb im Scherz, halb ernst.
Doch an Werneuchens Stelle antwortete zu ihrer Überraschung Amanda Kerr. »Ackermann lebte zum Zeitpunkt der Taten schon eine ganze Weile allein«, erklärte sie mit vollkommen wertfreier Miene. »Davor hatte er eine ganze Reihe von mehr oder weniger kurzlebigen Beziehungen. Aber keine davon ist ihm so nahegegangen, dass er sich dafür die Hände schmutzig gemacht hätte. Ganz im Gegenteil.« Sie nahm ihre Brille wieder ab und hielt sie ein Stück von sich weg. »Meine Kollegen haben ihn nach einer ganzen Reihe von Gesprächen als notorisch bindungsunwilligen Einzelgänger klassifiziert.«
»Aber nicht als Soziopathen?«, beharrte Verhoeven.
Dr. Kerr verneinte, und als müsse sie die Aussage noch einmal extra unterstreichen, fügte sie hinzu: »Was das angeht, waren sie absolut sicher.«
4
»Ich bin die Personalakten von St. Hildegard durchgegangen und hab da vielleicht was für euch«, verkündete Bredeney, als Winnie Heller einige Stunden später aus einer reichlich verspäteten Mittagspause zurückkehrte.
Winnie bückte sich unter ihren Schreibtisch und warf ihren Computer an. Dann wickelte sie sich aus ihren Wintersachen. »Lass hören.«
»Wie ihr wisst, waren Boris Mang, Karlheinz Rogolny und Olaf Madsen allesamt Patienten auf der sogenannten Station B.« Bredeney ließ sich schwer auf einen der beiden Besucherstühle in der Ecke fallen. »Und auf eben dieser Station gab es damals auch eine Pflegerin namens Ines Heider.«
Winnie Heller sah ihn erwartungsvoll an. »Ja, und?«
»Na ja«, Bredeney genoss es ganz offensichtlich, sie zappeln zu lassen. »Sagen wir mal so: Wenn ein freundlicher Zufall ihr nicht buchstäblich den Allerwertesten gerettet hätte, wäre aller Wahrscheinlichkeit nach sie für die Morde in den Knast gegangen. Und nicht Ackermann.«
»Sie hatte also einen einschlägigen Ruf?«, schloss Verhoeven, der bereits wieder an seinem Rechner saß.
Bredeney schüttelte den Kopf. »So würde ich das jetzt auch wieder nicht sagen. Allerdings hatte die Heimleitung wohl schon seit einiger Zeit ein Auge auf sie.«
»Weswegen?«
»Laut Akte gab es in St. Hildegard im Vorfeld der Morde wiederholt Probleme mit Medikamentendiebstählen.«
Verhoeven horchte auf. »Was?«
»Ja, du hast richtig gehört. Hier ein bisschen was, da ein bisschen was. Wohl so kleine Mengen, dass niemand die Polizei rief.«
»Warum ist das im Prozess nicht zur Sprache gekommen?«
»Ist es«, widersprach Bredeney. »Allerdings nahm man vor dem Hintergrund der gegen ihn erhobenen Vorwürfe an, Ackermann habe die Medikamente verschwinden lassen.«
Winnie Heller schüttelte den Kopf. »Man nahm es an?«
Bredeneys Fuchsgesicht wandte sich ihr zu. »Bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass man ihm nichts beweisen konnte. Und die Medikamente tauchten auch nicht wieder auf. Weder bei Ackermann noch sonst wo.«
»Wobei man vermutlich nur bei ihm danach gesucht hat«, schloss Winnie grimmig.
»Vermutlich«, sagte Bredeney.
Verhoeven rollte auf seinem Bürostuhl
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