Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
Eingangsbereich zudem von einer Videokamera überwacht wurde. Sie wies ihren Vorgesetzten mit einer unauffälligen Geste darauf hin, nachdem Verhoeven die Klingel betätigt hatte, und er nickte nur. Dann warteten sie, wobei Winnie fröstelnd die Arme um ihren Körper schlang. Sie hatte ihre Mütze vergessen, und die nassen Flocken, die seit einer Stunde wieder vom Himmel fielen, klatschten ihr geradewegs auf den Kopf. Sie schielte zu Verhoeven hinüber, doch den schien das unwirtliche Wetter heute nicht weiter anzufechten. Vielleicht wärmte ihn auch die unterdrückte Wut, die um seine Lippen spielte. Ja, dachte Winnie, er sieht aus, als ob er sich über irgendetwas fürchterlich geärgert hätte.
Nach einer Weile erschien eine große, kräftige Frau im schwarzen Habit und fragte die beiden Kommissare nach ihrem Anliegen.
»Wir hatten angerufen«, erklärte Winnie Heller und zog ihren Dienstausweis aus der Tasche.
»Ja, sicher, ich weiß schon«, nickte die Schwester, ohne den Ausweis auch nur eines Blickes zu würdigen. Und Winnie Heller schloss aus der Selbstsicherheit ihres Auftretens, dass sie innerhalb des Konvents eine gewisse Autorität genoss. Die Oberin vielleicht. »Bitte folgen Sie mir.«
Die beiden Kommissare wurden in ein weißgestrichenes, annähernd quadratisches Zimmer geführt, dessen einziger Schmuck ein monströses Kruzifix war, das über einem der niedrigen Bücherschränke prangte wie eine unausgesprochene Warnung. Die Frau, die sie eingelassen hatte, verschwand und kehrte gleich darauf in Begleitung einer anderen Schwester zurück, der sie aufmunternd zunickte, bevor sie diskret die Tür hinter sich schloss.
Ihre Begleiterin hingegen blieb unschlüssig mitten im Raum stehen. Ihr ungeschminktes Gesicht wirkte konturlos, wie nicht vorhanden. Dafür verrieten die breiten, muskulösen Hände der jüngeren Nonne Willensstärke und Tatkraft. Eine Frau, die zupacken konnte, wenn es darauf ankam.
»Ines Heider?«, fragte Winnie Heller und erhob sich von ihrem Stuhl.
»Diesen Namen benutze ich schon lange nicht mehr«, antwortete ihre Gesprächspartnerin mit einer Miene, die den Eindruck machte, als habe irgendwer das Leben dahinter einfach ausgeknipst.
Doch Winnie dachte überhaupt nicht daran, sich bezüglich des Namens zu korrigieren. »Sie können sich vermutlich denken, warum wir hier sind?«
»Nein.«
Das klang zumindest nicht unaufrichtig. Winnie rückte ihren Stuhl zurecht und setzte sich wieder. »Wir untersuchen den Mord an einem ehemaligen Arbeitskollegen von Ihnen.«
Keine Reaktion.
Als ob in ihrem Umfeld andauernd Menschen ermordet werden, dachte Winnie mit Befremden. »Sein Name war Joachim Ackermann.«
Falls sich bei Ines Heider irgendwelche Gefühle mit diesem Namen verbanden, verstand sie es ausgezeichnet, diese zu verbergen.
»Haben Sie gewusst, dass er tot ist?«
»Nein.«
»Aber die Zeitungen sind voll davon.«
Ines Heider schenkte ihr ein gleichgültiges Lächeln. »Wir lesen hier keine Zeitung.«
»Aha.« Winnie wies auf den Stuhl ihnen gegenüber. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, sich zu setzen?«
Sie rechnete fast damit, dass Ines Heider die Frage bejahen würde, doch die Frau nahm kommentarlos auf dem Stuhl Platz, den Winnie ihr zugewiesen hatte. Sie wirkte eigenartig alterslos, was an den bedeckten Haaren und dem fehlenden Make-up liegen mochte, doch von Bredeney wussten sie, dass Ines Heider mittlerweile sechsunddreißig Jahre alt war.
»Wir haben Anlass zu der Annahme, dass Ackermanns Ermordung in Verbindung mit den Tötungsdelikten steht, die sich damals auf Ihrer Station ereignet haben«, entschied Winnie sich für einen Frontalangriff, ohne sich mit Verhoeven abgestimmt zu haben.
Dieser reagierte weder überrascht noch befremdet, sondern beobachtete nur interessiert Ines Heiders Reaktion.
Die Pupillen der jungen Nonne wurden eine Spur weiter, doch noch immer schwieg sie.
»Was sagen Sie dazu?«
»Was soll ich da sagen?«
»Haben Sie sich damals gewundert, dass ausgerechnet Ackermann wegen der drei Morde auf Ihrer Station angeklagt wurde?«, fragte Winnie.
»Ja, habe ich.«
»Wirklich?«
Sie nickte.
»Warum?«
»Weil ich nicht erwartet hätte, dass der Verdacht ausgerechnet auf ihn fallen würde.«
Sondern auf dich, ergänzte Winnie im Stillen.
Ines Heider schien instinktiv zu fühlen, was sie dachte. Um ihren Mund erschien ein bitterer Zug. Doch der verschwand so schnell, dass Winnie nicht sicher war, ob sie sich nicht doch getäuscht
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