Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
Sie drehte sich um und blickte geradewegs in die wässrigen blauen Augen von Karina Eichenberg.
»Das ist für Sie, Kindchen.«
»Oh nein«, stotterte Winnie, indem sie völlig perplex einen Zehneuroschein aus ihrer Tasche zog. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber das … das geht wirklich nicht.«
»Ach, Unsinn, nehmen Sie’s ruhig.« Die Diplomatenwitwe schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, während Jamila Hartwig geringschätzig die Lippen verzog und sich nun auch endlich mit ihrem Croissant von dannen machte. »Und keine Sorge von wegen, dass ihr Mädchen keine Geschenke annehmen dürft und all das. Ich kenne diese Argumente zur Genüge. Aber ich weiß doch, was Leute wie Sie verdienen.« Sie beugte sich noch ein Stück näher an Winnie heran, und auf einmal blitzte irgendwo tief in ihren Augen Überheblichkeit auf.
Leute wie Sie …
Können Sie irgendetwas?
»Außerdem braucht ja auch niemand was davon zu erfahren.«
»Das ist sehr lieb von Ihnen, aber ich kann das wirklich nicht annehmen«, wiederholte Winnie mit Nachdruck, während sie der alten Dame den Geldschein in die Hand drückte. »Es tut mir leid.«
»Tja«, gab Karina Eichenberg achselzuckend zurück, »wenn Sie glauben, dass Sie sich so viel Arroganz leisten können …«
Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ging hocherhobenen Hauptes davon.
Winnie blickte ihr nach und wusste, dass sie in der Diplomatenwitwe mit dem unschuldigen Augenaufschlag ab sofort eine erbitterte Feindin haben würde.
4
Der Rest des Vormittags verlief ohne besondere Vorkommnisse. Keela erwies sich als echte Schleiferin und scheuchte ihre »Praktikantin« ohne Pause von Zimmer zu Zimmer. Winnie musste Betten machen, Hygieneartikel kontrollieren, Mineralwasser auffüllen, Formulare ausfüllen und Bestellungen für das Mittagessen aufnehmen.
»Schon wieder Wildreis«, maulte Kurt Söhnlein, der stattliche alte Herr vom Frühstück, als Winnie ihm das Klemmbrett mit dem Speisezettel unter die Nase hielt. Sein Zimmer war riesig und mit viel dunklem Holz möbliert, ohne dabei auch nur im Mindesten düster zu wirken. Es sah dort eher wie in einer englischen Bibliothek aus. »Angeblich ist das Zeug gesund, aber ich finde, es schmeckt wie Kleie.«
»Alternativ könnte ich Ihnen Kartoffelpüree anbieten«, erklärte Winnie, die dergleichen an diesem Morgen schon des Öfteren gehört hatte.
»Diese Pappe? Nee, nee, lassen Sie mal gut sein.« Söhnlein fegte das Kartoffelpüree mit einer verächtlichen Handbewegung vom Tisch. »Wildreis servieren sie uns hier ständig, wenn Sie mich fragen, einzig und allein zu dem Zweck, die horrenden Preise zu rechtfertigen, die sie uns abknöpfen. Und es interessiert sie einen feuchten Kehricht, dass das Zeug hier niemandem schmeckt.«
»Soll ich fragen, ob Sie …«
»Ach was«, versetzte der alte Herr. »Streichen Sie einfach die Beilage. Ist sowieso immer alles viel zu viel. Was gibt’s an Gemüse?«
»Wahlweise Leipziger Allerlei oder gelbe Rüben.«
»Rüben.«
»Gut.« Sie lächelte ihm zu. »Danke.«
Er lächelte auch. Aber sein Lächeln erinnerte Winnie an den bösen Wolf im Märchen.
Damit ich dich besser fressen kann …
Sie wollte sich gerade abwenden, als eine Bewegung von ihm sie zurückhielt. »Und als Nachtisch schreiben Sie Eis auf.«
»Ich weiß nicht, ob wir …«
»Ich möchte ein Eis.«
Er hatte ganz ruhig und freundlich gesprochen, und doch brachte seine Entschlossenheit Winnie ins Schlingern. Da war etwas in seinem Blick, etwas zutiefst Zwingendes, das ihr ein Gefühl von nervösem Unbehagen verursachte. Plötzlich musste sie an ihre Eignungsprüfung für den Kriminaldienst denken. An die Prüfer, vor denen sie sich einzeln und in Gruppen hatten präsentieren müssen. Und an ihre Angst, dabei etwas von sich preiszugeben, das sie aus dem Rennen warf.
Sie sah auf ihr Klemmbrett hinunter, und obwohl sie keineswegs sicher war, Söhnleins Wunsch erfüllen zu können, notierte sie brav das Wort » EIS « auf ihrer Liste.
Söhnlein beobachtete ihr Tun mit zufriedener Miene, und Winnie rechnete fast damit, dass er etwas wie »Na also, geht doch« sagen würde. Doch Kurt Söhnlein sagte gar nichts. Nicht einmal »Tschüss. Bis morgen«.
Auf dem Gang atmete Winnie erst einmal tief durch, bevor sie sich der nächsten Tür zuwandte. Auf dem Schild neben dem Türrahmen stand: E. FERSTEN .
Winnie klopfte und erntete ein fröhliches »Herein«.
»Guten Morgen, Frau Fersten. Ich bin Winnie, die neue
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