Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
besprengte, den sie jeden Tag ging, dann machte Ilse einen Bogen darum.«
Winnie nickte. »Ich glaube ich verstehe, was Sie meinen.«
»Ich sehe wirklich keinen Grund, warum sie über dieses Geländer geklettert sein sollte«, sagte Elisabeth Fersten, und ihre Miene war zutiefst nachdenklich, »ebenso wenig, wie ich einen Grund dafür sehen würde, dass sie sich vor ein Auto wirft.«
Aber sie muss drübergeklettert sein, dachte Winnie. Man hat keinerlei Abwehrverletzungen gefunden …
»So komisch das vor dem Hintergrund einer solchen Erkrankung vielleicht klingen mag, Ilse hat eigentlich nie dumme oder gefährliche Dinge getan«, wiederholte Elisabeth Fersten gegen den Krach der Bohrmaschine, der in diesem Augenblick aufs Neue einsetzte. »Bei ihr hatte immer alles Hand und Fuß – und sei es auch nur von ihrem persönlichen Standpunkt aus.«
Winnie überlegte einen Moment. »Und wenn sie aus irgendeinem Grund den Halt verloren hätte?«
»Sie war motorisch so gut wie gar nicht beeinträchtigt«, gab die alte Dame zurück. »Übrigens eher ungewöhnlich für das Krankheitsstadium, in dem sie sich befand.« Sie zuckte die Schultern. »Aber ich bin natürlich kein Arzt.«
»Und wann haben Sie Frau Brilon zum letzten Mal gesehen?«, fragte Winnie, weil die Antwort auf diese Frage sie wirklich interessierte.
»Am Donnerstag«, lautete die prompte Antwort. »Freitag ging’s mir, wie gesagt, wegen meiner Hüfte nicht so dolle, weshalb ich ausnahmsweise auf meinem Zimmer gegessen habe. Aber sonst sind wir uns eigentlich immer spätestens zu den Mahlzeiten begegnet.«
Winnie nickte. Donnerstag also …
Der Tag vor Ilse Brilons Tod …
Das war der Tag, an dem Joachim Ackermann starb …
»Hat sich Frau Brilon bei dieser Ihrer letzten Begegnung irgendwie anders verhalten als sonst?«, fragte sie. »War sie vielleicht deprimiert oder so?«
Elisabeth Fersten schüttelte den Kopf. »Nein, könnte ich nicht sagen. Sie war genau wie immer.«
Winnie warf einen Blick auf die Uhr und zuckte erschrocken zusammen. Wie schnell die Zeit verging!
»Müssen weiter, was?«, fragte die alte Dame, die ihren Gesichtsausdruck richtig gedeutet hatte.
»Ja. Tut mir leid.«
»Ach was, ich weiß doch, wie viel Arbeit ihr Mädchen habt. Für beschissenes Geld, nebenbei bemerkt. Also lassen Sie sich von einer alten Schwätzerin wie mir nicht aufhalten. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«
»Den wünsche ich Ihnen auch«, entgegnete Winnie herzlich.
Auf dem Gang traf sie Keela. »Ach, hier steckst du.« Sie klang ziemlich verstimmt. »Ich hab dich schon gesucht.«
»Entschuldige. Aber ich brauche einfach noch schrecklich lange für alles.«
»Hast du die Listen fürs Mittagessen?«
Anstelle einer Antwort hielt Winnie das Klemmbrett mit ihren brav ausgefüllten Essenszetteln hoch.
Keela bedachte sie mit einem Blick, den sie nicht deuten konnte. »Lass dich nicht zu sehr bequatschen«, sagte sie nur. Dann wandte sie sich brüsk ab und eilte mit langen Schritten den Gang hinunter.
5
»Oh«, sagte Verhoeven, als er die Tür seines Hauses aufschloss und die Babytragetasche mitsamt seinem schlafenden Sohn in der Diele vorfand.
»Gut, dass du da bist«, rief seine Frau aus der Küche, während Verhoeven dem Baby einen eiligen Kuss auf die ziemlich gut durchblutete Wange drückte. Zu seinem Erstaunen trug Jan einen Schal, einen Pullover, eine Mütze und den hellblauen Bench-Anorak, den seine Schwiegereltern ihm zu Nikolaus geschenkt hatten, was Verhoeven – nebenbei bemerkt – für absolut versnobt und obendrein maßlos übertrieben hielt.
»Wollt ihr weg?«, fragte er, als Silvie gleich darauf in der Küchentür auftauchte.
Sie sah ihn an, als habe er ein Verbrechen begangen. »Die drei Wochen sind um«, sagte sie, als erkläre das irgendetwas.
Angesichts der unüberhörbaren Gereiztheit in ihrer Stimme entschied Verhoeven, nicht weiter nachzuhaken und die abgelaufenen »drei Wochen« erst einmal kommentarlos hinzunehmen. Doch er hatte die Rechnung ohne seine Frau gemacht.
»Die Nachuntersuchung bei Dr. Preuss«, erklärte sie schnippisch. »Der Termin ist um vier, was bedeutet, dass wir auf jeden Fall zu spät kommen, ganz egal, wie sehr wir uns jetzt beeilen.« Sie stöhnte. »Na ja, nicht zu ändern.«
Verhoeven runzelte die Stirn. Es war nicht geplant gewesen, dass er an diesem Nachmittag überhaupt zu Hause sein würde, und genau genommen war er auch schon fast wieder weg. Also womit, bitte schön, hatte seine
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