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Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)

Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)

Titel: Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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du alter Drache!
    »Ich gebe mir Mühe.«
    »Lachen Sie nicht, so was müssen Sie heutzutage dazusagen.« Jamila Hartwig seufzte. »Die meisten Ihrer Kolleginnen sind völlig beschränkt.«
    Winnie sparte sich ganz bewusst eine Entgegnung auf diese wenig schmeichelhafte Feststellung.
    »Das ist hier genau dasselbe, was die Topmanager im Fernsehen beklagen«, stürzte sich Drachen-Jamila vergnügt auf das nächste Reizthema. »Sie finden heutzutage wirklich niemanden mehr, der sich irgendwas merken kann.«
    »Das stimmt«, gab der alte Herr ihr recht. Er war stattlich, noch immer mindestens eins achtzig groß und außergewöhnlich gutaussehend, mit breiten Schultern und einer fast militärisch straffen Haltung.
    Es lag Winnie auf der Zunge, ihn nach seinem Namen zu fragen, doch die streitlustige Frau Hartwig redete bereits wieder wie ein Wasserfall.
    »Ich hatte früher mal eine Buchhandlung«, erklärte sie ungefragt. »Eine ziemlich große Buchhandlung, nebenbei bemerkt. Aber auch da konnten Sie förmlich zugucken, wie die Lehrlinge mit jedem Jahr, das ins Land ging, dümmer wurden. Dümmer und immer weniger belastbar.« Sie betrachtete das Croissant auf ihrem Teller und schien ernsthaft zu überlegen, ob sie es sich leisten konnte, zwischendurch mal kurz hineinzubeißen. »Sie schicken diese Kinder einen halben Tag auf die Buchmesse, und zwei von dreien lassen sich im Anschluss daran erst mal sechs Wochen krankschreiben, weil ihnen der Rücken wehtut!« Sie stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Dabei tut einem im Leben doch eigentlich immer irgendwas weh. Wenn Sie darauf Rücksicht nehmen wollten, könnten Sie sich gleich bei der Geburt einsargen lassen.«
    Irgendwie mag ich sie, dachte Winnie. Sie hat Charakter!
    »Und erst diese Mütter heute.« Jamila Hartwig verdrehte die Augen. »Gott, was habe ich mich mit denen angelegt! Aber allenthalben hören Sie nur noch Schätzelein hier und Schätzelein da. Glauben Sie etwa, meine Eltern hätten irgendein Aufhebens darum gemacht, wenn ich mir mal wieder die Knie aufgeschlagen hatte?« Sie sah Winnie an, als erwarte sie tatsächlich eine Antwort von ihr. »Aber heutzutage muss da gleich eine Impfung her. Und eins von diesen atmungsaktiven Pflastern. Und wehe der Mutter, wenn da nicht Prinzessin Lillidings oder diese hässliche Katze drauf ist, Sie wissen schon, dieses japanische Vieh, das nur aus einem blöden Gesicht besteht.«
    Winnie grinste. »Haben Sie Kinder?«
    Die Antwort bestand aus einem prompten: »Nee, nee, bewahre«, in dem eine unüberhörbare Dankbarkeit schwang. »Auf die Art von Ärger konnte ich immer sehr gut verzichten.« Die alte Dame rammte ihren Gehstock, der Winnie bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal auffiel, vor sich in den Boden, als gelte es, ihn dort für die Ewigkeit zu verankern. »Sehen Sie sich doch nur mal um. Die, die hier am lautesten mit ihrer Nachzucht prahlen, sind dieselben, die am Muttertag vergeblich auf einen Anruf von ihrem sauberen Herrn Anwalt-Sohn warten, dessen popliges und nebenbei teuer erkauftes Staatsexamen selbstredend gerahmt über ihrem Bett hängt.«
    »Wessen Staatsexamen?«, erkundigte sich eine andere ältere Dame, deren feines, rein weißes Haar einen ausgezeichneten Friseur verriet.
    »Keiner, den du kennst«, gab Jamila Hartwig unfreundlich zurück. Offenbar konnte sie die Angesprochene nicht leiden.
    Doch diese tat ihr nicht den Gefallen, beleidigt zu sein, sondern nahm sich mit einem souveränen Lächeln eine Scheibe Vollkornbrot aus einem der Körbe und wandte sich dann den verschmähten Marmeladen zu.
    »Regina hat früher mal in einer Anwaltskanzlei gearbeitet und fühlt sich noch immer berufen, ihre Zunft zu verteidigen, sobald auch nur die Rede drauf kommt«, bemerkte Jamila Hartwig bissig.
    »Ach was, Anwälte sind alle Verbrecher«, erklärte der große alte Herr mit staubtrockener Miene. »Einer wie der andere taugen sie gerade so viel, dass Sie sie guten Gewissens in der Pfeife rauchen können.«
    Doch obwohl sie noch immer in Hörweite war, ließ sich »Regina« auch dieses Mal nicht provozieren. »Da hast du verdammt recht«, pflichtete sie ihm ebenso entwaffnend wie fröhlich bei. Dann zwinkerte sie Winnie zu und steuerte einen Platz im hinteren Teil des Frühstücksraums an.
    »Arrogant wie eh und je«, zischte die streitlustige Frau Hartwig, während irgendjemand anders an Winnies Ärmel zupfte.
    Ein paar Augenblicke später fühlte Winnie eine Hand in der Tasche ihrer geliehenen Hose.

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