Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
um fünf Uhr in der Frühe wieder zur Morgenandacht ruft.«
»Soweit ich weiß, arbeitet Ines Heider in ganz normalen Schichten auf der Palliativstation des ordenseigenen Hospizes«, entgegnete Verhoeven, während er sich fragte, was Hinnrichs wohl derart gegen die Kirche aufgebracht hatte. Das Ausmaß seines Sarkasmus’ sprach jedenfalls für ein persönliches Motiv. »Außerdem verfügt das Mutterhaus des Klosters anscheinend über ein ziemlich modernes Überwachungssystem. Es gibt eine Kamera am Eingang, und auch drinnen ist mir die eine oder andere aufgefallen.«
Die Information löste allgemeine Überraschung aus.
»Ich mache mich noch mal kundig, ob da überhaupt jemand ungesehen rein- und rauskommt«, versprach Verhoeven.
Hinnrichs warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. »Ja«, sagte er, »tun Sie das.«
3
»Miss?«
Winnie Heller drehte sich zu einer alten Dame im angejahrten, aber tadellos intakten Chanel-Kostüm um. Karina Eichenberg. Diplomatenwitwe. Deshalb wohl die anglophile Anrede. Und das, obwohl Frau Eichenberg nun schon seit fünfunddreißig Jahren wieder in Deutschland lebte. Mindestens.
»He, Mi-hiss!«
»Meinen Sie mich?«
»Ja, Sie.«
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte Marmelade, aber hier ist nur dunkle.« In den wässrigen blauen Augen stand ein unübersehbarer Vorwurf.
»Das kann nicht sein«, versuchte Winnie Heller es zunächst mit Vernunft. »Ich habe die Marmeladen selbst aufgedeckt.« Und war hin und weg über die luxuriöse Vielfalt, ergänzte sie in Gedanken.
»Aber ich habe doch Augen im Kopf!«
Offenbar nicht …
Winnie sparte sich eine verbale Entgegnung und hielt stattdessen einen Keramiktopf mit Aprikosenmarmelade in die Höhe.
»Aber das ist Aprikose«, maulte Karina Eichenberg.
»Richtig.«
»Ich bin allergisch gegen Aprikosen.«
Neben ihr begann Maria Nörtling, eine ehemalige Gymnasiallehrerin, laut zu lachen. »Ach du liebes bisschen.«
»Was gibt es da zu lachen?«, versetzte Karina Eichenberg mit einer Mischung aus Trotz und Empörung.
»Niemand ist allergisch gegen Aprikosen.«
»Doch. Ich.«
Maria Nörtling wischte den Einwand mit einer abfälligen Geste vom Tisch. »Das täuschst du nur vor.«
Karina Eichenbergs Augen nahmen einen neuen Ausdruck an. »Warum sollte ich?«
»Weil du nur auf diese Weise an die Aufmerksamkeit kommst, die du brauchst, um dich wohlzufühlen«, entgegnete die pensionierte Lehrerin mit messerscharfer Logik. Winnie Heller schätzte sie auf Mitte bis Ende siebzig. Aber sie hatte gelernt, sich zu behaupten. Kein Zweifel.
»Das stimmt nicht«, gab Karina Eichenberg mit wachsender Hilflosigkeit zurück. »Ich bin wirklich allergisch.«
»Eine Hypochonderin bist du.«
»Das warst du schon immer«, mischte sich nun auch eine andere Dame ein, die, wie Winnie von Keela wusste, Jamila Hartwig hieß. Die Kollegin hatte die Bedienung derjenigen Bewohner übernommen, die sich nicht selbst am Buffet bedienen konnten oder wollten. Und während sie geschäftig zwischen den bistroartig angeordneten Tischen hin und her lief, raunte sie ihrer Praktikantin im Vorbeigehen immer mal wieder ein paar knappe Informationen zu, die Winnie Heller mit Vergnügen und Interesse zur Kenntnis nahm.
Die Empfehlung für Jamila Hartwig lautete:
Hüte dich vor dem raffinierten alten Drachen, sonst macht sie mit dir, was sie will.
Fast wie eine Notiz aus einem Glückskeks, dachte Winnie amüsiert.
»Ich bin keine Hypochonderin, bin ich nie gewesen«, verteidigte sich unterdessen Karina Eichenberg, die ihre Sprache wiedergefunden hatte.
»Was denn sonst?«
»Ich bin zart.«
»Ja, na klar«, höhnte der Drachen aus dem Glückskeks. »Zart und zerbrechlich wie ein Schmetterling. Deshalb ist dein Mann ja auch beizeiten zu Frauen geflüchtet, bei denen er nicht fürchten musste, dass sie zerbrechen, wenn er sie anrührt.«
»Das ist doch …«, setzte die Diplomatenwitwe an, doch sie schien nicht die richtigen Worte zu finden, sodass der Satz seltsam unvollendet in der ebenso aufmerksamen wie unbequemen Stille schwebte, die sich zwischen den Frauen am Buffet breitgemacht hatte.
Winnie Heller registrierte mit Unbehagen, dass Karina Eichenberg mittlerweile die Tränen in den Augen standen. Das hört nie auf, dachte sie mit einem Gefühl von Beklemmung, bis zum letzten Atemzug machen wir uns gegenseitig das Leben zur Hölle …
»Wie wär’s stattdessen mit Honig?«, schlug sie eilig vor, um der Diplomatenwitwe irgendwie zu Hilfe zu kommen.
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