Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
»Ich habe da nämlich eine Idee, die ich gern mit ihr besprechen würde.«
»Mit wem?«, fragte Verhoeven, der den Überblick verloren hatte.
»Mit Silvie. Aber ich muss mich unbedingt schon morgen Vormittag entscheiden.«
Hieß im Klartext, dass sie die nächsten hundert Jahre verstimmt sein würde, falls Silvie sie nicht noch an diesem Abend zurückrief …
Verhoeven wischte seinem schreienden Sohn den Schweiß aus der Stirn. »Ich sag’s ihr.«
Doch sein freundliches Angebot erntete nur ein reichlich kühles »Danke«, dann knackte es in der Leitung, und der Spuk war vorbei.
»Geht’s etwa schon wieder um Papas Geburtstag?«, fragte Silvie, ohne auch nur eine Silbe von dem Telefonat mitbekommen zu haben.
Verhoeven bejahte.
»Gott, diese Frau macht mich wahnsinnig!«
Mich auch, pflichtete Verhoeven ihr aus tiefster innerer Überzeugung bei. Doch angesichts der angespannten Gesamtsituation verzichtete er darauf, seine Gedanken laut zu äußern. Stattdessen fragte er: »Wo ist Nina?«
Seine Frau antwortete nicht, sondern drückte ihm ein selbstgemaltes Bild in die Hand, das einen riesigen bunten Fisch auf einem riesigen bunten Stein vor einer riesigen schwarzen Höhle zeigte. Darunter hatte seine Tochter in noch etwas ungelenken, aber absolut korrekten Buchstaben den Namen ANNABELLE gesetzt.
»Was ist das?«
»Das war ein Gastgeschenk für Winnie«, erklärte Silvie, was Verhoeven sich bereits selbst zusammengereimt hatte.
»Da wird sie sich ganz bestimmt riesig freuen. Noch dazu, wo sie doch Annabelle zusammen gekauft haben und …«
Seine Frau drängte sich an ihm vorbei, rupfte ihren Schal von der Garderobe, nahm ihm Jan, der sich völlig verausgabt hatte, aus dem Arm und legte das Baby kommentarlos in die Tragetasche zurück. »Bleibst du hier, oder musst du noch mal weg?«
Die Antwort auf die letztere Frage lautete eindeutig: »Ja. Ich muss noch mal weg«, aber das brachte Verhoeven angesichts der Umstände nicht über sich.
»Gut«, sagte seine Frau. »Dann lasse ich Nina bei dir.«
»Wo ist sie?«, wiederholte er seine Frage von eben.
»Oben.« Silvie öffnete die Haustür und stemmte die Tasche mit dem Baby in die Kälte hinaus. »Es mag pädagogisch nicht ganz unumstritten sein, aber ich habe ihr erlaubt, das Video über diese Aufzuchtstation für Orang-Utans zu gucken, damit der Nachmittag vielleicht doch noch zu retten ist.«
Verhoeven nickte. »Das ist gut.«
»Und denk an den Kuchen im Eisschrank«, entgegnete seine Frau knapp. »Es ist der mit den Schokostückchen, den sie so gern isst.«
Herrgott noch mal, irgendwie schaffte sie es tatsächlich immer, dass er sich wie ein Verbrecher vorkam!
»Ich bringe ihr ein Stück hoch.«
»Alles klar, bis dann.«
Sie riss ihre Autoschlüssel vom Haken, griff sich die Tragetasche mit ihrem inzwischen friedlich schlafenden Sohn und stapfte ohne ein weiteres Wort zur Garage.
Verhoeven blieb in der geöffneten Haustür stehen und blickte ihr nach, bis der rote Twingo aus seinem Blickfeld verschwunden war.
6
Winnie mühte sich eine Weile mit der Tür ihres Spinds, die sich partout nicht schließen lassen wollte, und bückte sich dann mit einem mühevollen Stöhnen nach ihren Stiefeletten. Sie hatte mit vielem gerechnet, aber dass der Job derart anstrengend war, überraschte sie doch. Wenn sie die zurückliegenden Stunden Revue passie ren ließ, fand sie nichts, das eine so abgrundtiefe Erschöpfung, wie sie sie empfand, gerechtfertigt hätte. Trotzdem fühlte sie sich wie erschlagen.
»Na?«, fragte Grit Backes, als sie sich kurz darauf im Schwesternzimmer abmeldete. »Wie ist der erste Tag gelaufen? War’s sehr schlimm?«
»Es war interessant«, gab Winnie zurück, und das meinte sie wirklich so.
Die Stationsleitung schenkte ihr ein mitleidiges Lächeln. »Na, dann kämpfen Sie mal weiter.«
»Mach ich.«
»Gut, gut.«
»Tja dann, bis morgen.« Winnie hob grüßend die Hand.
»Bis dann.«
Ihre Armbanduhr zeigte zwanzig nach vier, was bedeutete, dass ihr Dienst eigentlich schon seit knapp zwei Stunden zu Ende war. Aber an die vertraglich fixierten acht Stunden pro Schicht schien sich hier niemand zu halten. Von weitem sah sie Jörg Thalau, der nach wie vor seine Pflegerkluft trug. Und auch Nicole Freytag war noch immer irgendwo im Haus unterwegs, obwohl die Spätschicht längst angefangen hatte. Sie hatte überlegt, ein Foto von Ackermann herumzuzeigen, um herauszufinden, ob er vor seinem Tod vielleicht tatsächlich in Tannengrund
Weitere Kostenlose Bücher