Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
widersprachen.
»Wieso?«, gab Söhnlein barsch zurück.
»Wieso? … Du machst mir Spaß! Ihr wisst doch selbst, wie oft unsere arme Ilse Vergangenheit und Gegenwart durcheinandergeworfen hat. Und wer weiß, vielleicht hatte sie einen guten Grund, über dieses Geländer zu klettern.«
Regina Göbels hübsche blaue Augen blickten beinahe amüsiert. »Was für ein Grund sollte das denn gewesen sein, den sie nicht schon tausendfach gehabt hätte?«
Die Exbuchhändlerin bedachte sie mit einem triumphierenden Lächeln. »Angst.«
»Angst?«
Söhnlein schüttelte den Kopf. »Wovor sollte sie Angst gehabt haben?«
»Sie hat mir selbst erzählt, dass sie sich fürchtet, und weiß Gott, das habe ich ihr auch abgenommen!«, fuhr Jamila Hartwig fort, die jetzt erst richtig in Schwung kam. »Am Tag ihres Todes war sie regelrecht in Panik.«
Elisabeth Fersten horchte auf. »Sie hat dir gesagt, dass sie Angst hat?«
»Oh ja, allerdings.«
»Seltsam.«
»Warum seltsam?«, schnappte Jamila Hartwig, die sich wie immer augenblicklich angegriffen fühlte. »Wenn sie Angst hatte, hatte sie Angst. Ob berechtigt oder nicht, spielt dabei doch gar keine Rolle.«
»Mir gegenüber hat sie nie etwas in dieser Richtung erwähnt«, sagte Elisabeth Fersten nachdenklich.
»Zu mir hat sie auch nichts gesagt«, pflichtete Regina Göbel ihr bei. »Im Gegenteil. Sie machte auf mich immer den Eindruck, als ob sie in geradezu bemerkenswerter Weise in sich selbst ruhte.«
»Oh nein, das hatte sich geändert!« Jamila Hartwig fuchtelte mit dem Zeigefinger durch die trockene Heizungsluft, die in den Gängen stand. »Sie war geradezu panisch an dem besagten Morgen.«
»Ist mir nicht aufgefallen«, brummte Söhnlein und wandte den Kopf. Für ihn war die Sache erledigt.
»Ich verstehe vielleicht nicht viel von solchen Dingen«, beharrte Jamila Hartwig, »Ihr wisst schon, Medizin und so. Aber es ist doch gut möglich, dass bei so einer Erkrankung, wie Ilse sie hatte, irgendwelche paranoiden Anfälle auftreten oder etwas in der Art. So was kann ganz plötzlich kommen. Und das würde auch erklären, wieso sie sich an diesem Morgen aufführte, als habe sie Verfolgungswahn.«
»Was hat sie denn genau gesagt?«, fragte Elisabeth Fersten, deren Neugier geweckt war.
Jamila Hartwigs Grinsen erinnerte sie an eine Interpretation des
Mephisto,
die sie einmal in Berlin gesehen hatte. »Sie hat mich nach dem Frühstück beiseitegenommen und mir im Brustton der Überzeugung erzählt, dass sie untertauchen müsse, weil die Gestapo hinter ihr her sei.«
»Ha!«, machte Söhnlein.
»Natürlich hab ich ihr daraufhin erklärt, dass sich die Gestapo gottlob schon eine ganze Weile erledigt hat. Aber sie bestand darauf, dass sie von zwei Gestapo-Männern verfolgt würde, weil sie Eier geschmuggelt habe, oder so ähnlich.«
Regina Göbel biss sich mit einem Ausdruck tiefer Betroffenheit auf die Lippen. »Mein Gott, die Ärmste.«
»Ach was«, echauffierte sich Söhnlein. »Die war doch völlig durchgeknallt. Das habe ich immer gesagt.«
»Sie sprach ausdrücklich von Gestapo-Leuten?« Elisabeth Fersten zog die Stirn in Falten, während Jamila Hartwig bereits eifrig nickte.
»Ja, Gestapo. Und sie behauptete allen Ernstes, diese Kerle seien ihr bis ins Haus gefolgt. Ich meine …« Sie hielt inne und senkte die Stimme. »Vor diesem Hintergrund muss es einen doch wohl nicht wundern, wenn so jemand bei einer seiner nächtlichen Touren in Panik gerät und irgendwas Dummes tut, oder?«
Elisabeth Fersten reagierte nicht, sondern starrte nur auf das saubere Linoleum zu ihren Füßen.
»Aber jetzt gehen sie natürlich alle hin und beschuldigen die Heimleitung von wegen Verletzung der Aufsichtspflicht und so«, ereiferte sich Jamila Hartwig. »So ’n Quatsch! Was hätten die denn tun sollen?«
»Gar nichts!«, pflichtete Kurt Söhnlein ihr bei. »Schließlich kann man diese Irren ja nicht auf ihren Zimmern einsperren, auch wenn das vielleicht manchmal besser wäre.«
Regina Göbel warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Sie schien mindestens genauso nachdenklich wie Elisabeth Fersten. »Ich weiß nicht«, sagte sie leise, »aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass da mehr dahintersteckt.«
»Was sollte denn dahinterstecken?«, fragte Söhnlein.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung«, sagte sie. »Fest steht nur, dass, was immer mit Ilse passiert ist, nur ein Teil der Wahrheit ist.«
»Wie meinen Sie das?«, kam Elisabeth Fersten einer erneuten
Weitere Kostenlose Bücher