Schneewittchen muss sterben
Bodenstein.
»Ja. Sie rief: Jetzt rechts! Und dann: Jetzt links! Ich habe genau das gemacht, was sie gesagt hat.«
»Kann ich verstehen.« Bodenstein nickte, dann beugte er sich vor, und seine Stimme wurde scharf. »Was ich allerdings nicht verstehe, ist, warum Sie nicht schon am Bahnhof ausgestiegen sind! Weshalb noch diese lebensgefährliche Verfolgungsjagd quer durch die Stadt? Haben Sie eine Ahnung, wie leicht es einen Unfall hätte geben können?«
Pia kaute an ihrer Unterlippe und ließ Terlinden nicht aus den Augen. Gerade als Bodenstein sich zu ihr umwandte, beging Claudius Terlinden einen Fehler. Er tat etwas, was niemand unter schwerem Schock tun würde: Er blickte auf seine Armbanduhr.
»Sie lügen wie gedruckt!«, fuhr Pia ihn wütend an. »Das war alles ein abgekartetes Spiel! Sie wollten nur Zeit schinden! Wo ist die Lauterbach hin?«
Terlinden versuchte noch ein paar Minuten lang, die Tarnung aufrechtzuerhalten, aber Pia ließ nicht locker.
»Sie haben recht«, gestand er schließlich. »Wir wollten zusammen verschwinden. Die Maschine geht um 23:45 Uhr. Wenn Sie sich beeilen, erwischen Sie sie vielleicht noch.«
»Wohin? Wo wollten Sie hinfliegen?« Pia musste sich beherrschen, um den Mann nicht an den Schultern zu packen und durchzuschütteln. »Jetzt machen Sie schon den Mund auf! Die Frau hat einen Menschen erschossen! Das nennt man Mord. Und wenn Sie jetzt nicht allmählich mit der Wahrheit herausrücken, dann sind Sie mit dran, das schwöre ich Ihnen! Also, wird's bald? Welchen Flug will Daniela Lauterbach nehmen? Und unter welchem Namen?«
»Den nach Sáo Paulo«, flüsterte Terlinden und schloss die Augen. »Als Consuela la Roca.«
»Ich fahre zum Flughafen«, entschied Bodenstein draußen vor dem Mannschaftswagen. »Du machst mit Terlinden weiter.«
Pia nickte. Es machte sie ganz nervös, dass sie noch nichts von den Kollegen aus Altenhain gehört hatte. Was war mit Amelie? Hatte die Lauterbach das Mädchen etwa auch erschossen? Sie bat einen der Streifenbeamten, sich nach Amelies Befinden zu erkundigen, und kletterte zurück in den VW-Bus.
»Wie konnten Sie das nur tun?«, fragte Pia. »Daniela Lauterbach hat um ein Haar Ihren Sohn Thies getötet, nachdem sie ihn jahrelang mit Drogen vollgepumpt hat!«
Terlinden schloss für einen Moment die Augen.
»Sie verstehen das ja doch nicht«, erwiderte er müde und wandte den Blick ab.
»Dann erklären Sie es mir«, forderte Pia ihn auf. »Erklären Sie mir, warum Daniela Lauterbach Thies so misshandelt und die Orangerie angezündet hat.«
Claudius Terlinden öffnete die Augen und starrte Pia an. Eine Minute verstrich, eine zweite.
»Ich habe mich in Daniela verliebt, als mein Bruder sie das erste Mal mit nach Hause brachte«, sagte er unvermittelt. »Das war an einem Sonntag. Am 14. Juni 1976. Es war Liebe auf den ersten Blick. Trotzdem hat sie ein Jahr später meinen Bruder geheiratet, obwohl sie überhaupt nicht zueinander passten. Sie waren kreuzunglücklich miteinander. Daniela hatte großen Erfolg in ihrem Beruf, mein Bruder stand in ihrem Schatten. Er schlug sie immer häufiger, auch vor dem Personal. Im Sommer 1977 erlitt sie eine Fehlgeburt, ein Jahr später eine zweite und dann eine dritte. Mein Bruder wollte einen Erben, er war wütend und gab ihr die Schuld. Als meine Frau dann auch noch Zwillingssöhne bekam, war es ganz aus.«
Pia hörte schweigend zu und hütete sich davor, ihn zu unterbrechen.
»Vielleicht hätte Daniela sich scheiden lassen, aber ein paar Jahre später erkrankte mein Bruder an Krebs. Unheilbar. Sie wollte ihn in diesem Zustand nicht mehr verlassen. Er starb im Mai 1985.«
»Wie praktisch für Sie beide«, bemerkte Pia sarkastisch. »Das erklärt aber nicht, warum Sie ihr zur Flucht verhelfen wollten, obwohl diese Frau Amelie und Thies entführt hatte und in einem Keller eingesperrt hat. Hätten wir die beiden nicht zufällig gefunden, wären sie ertrunken, denn Frau Lauterbach hatte den Keller geflutet.«
»Was reden Sie denn da?« Claudius Terlinden blickte irritiert auf.
Plötzlich dämmerte Pia, dass Terlinden vielleicht wirklich nicht wusste, was Daniela Lauterbach getan hatte. Er war vorhin im Krankenhaus auf dem Weg zu seinem Sohn ge wesen, zu einem Gespräch war es aber durch den tragischen Zwischenfall wahrscheinlich nicht mehr gekommen. Davon abgesehen hätte Thies seinem Vater wohl kaum etwas erzählen können. Pia berichtete Claudius Terlinden also haarklein von Daniela Lauterbachs
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