Schneewittchen muss sterben
enterbte. Amelie hatte das Dokument in einem dicken Briefumschlag einem Kollegen gegeben, bevor sie in den Notarztwagen gestiegen war, der Tobias Sartorius ins Krankenhaus brachte. Der junge Mann hatte Glück im Unglück gehabt, denn die Waffe, mit der Daniela Lauterbach auf ihn geschossen hatte, hatte dank ihrer geringen Durchschlagskraft keine tödliche Wirkung gehabt. Dennoch hatte Tobias sehr viel Blut verloren und war auch nach der Notoperation noch nicht außer Lebensgefahr.
»Ich verstehe nicht ganz, warum das Testament von Wilhelm Terlinden im Besitz von Hartmut Sartorius war«, sagte Pia. »Es wurde nur ein paar Wochen vor seinem Tod aufgesetzt.«
»Wahrscheinlich hatte er da erst erfahren, dass die beiden ihn über Jahre hinweg betrogen hatten.«
»Hm.« Pia unterdrückte nur mit Mühe ein Gähnen. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, war todmüde und gleichzeitig aufgekratzt. Tobias und seine Familie waren Opfer von üblen Intrigen, Geld- und Machtgier geworden, aber dank des Testaments, das Hartmut Sartorius aufbewahrt hatte, zeichnete sich zumindest in finanzieller Hinsicht ein einigermaßen gutes Ende für Tobias und seine Mutter ab.
»Komm, hau schon ab«, sagte Ostermann zu Pia. »Der Papierkram hat auch noch Zeit bis morgen.«
»Weshalb hat Hartmut Sartorius dieses Testament bloß nie geltend gemacht?«, fragte Pia.
»Vielleicht hatte er Angst vor den Konsequenzen, oder er hatte selbst Dreck am Stecken. Irgendwie ist er ja an dieses Testament gekommen, und das sicher nicht auf legalem Weg«, erwiderte Ostermann. »Außerdem gelten in so einem Dorf andere Gesetze. Ich kenne das.«
»Wieso?«
Ostermann grinste und erhob sich.
»Du willst doch jetzt nicht etwa um halb vier morgens meine Lebensgeschichte hören, oder?«
»Halb vier? Mein Gott …« Pia gähnte und streckte sich. »Wusstest du, dass Frank von seiner Frau verlassen wurde? Oder dass Hasse mit dem Kultusminister befreundet ist?«
»Ersteres ja, letzteres nein«, antwortete Ostermann und schaltete seinen Computer ab. »Warum fragst du?«
»Ich weiß auch nicht.« Pia zuckte nachdenklich die Schultern. »Aber da verbringt man mehr Zeit mit seinen Kollegen als mit seinem Partner und weiß doch nichts voneinander. Warum ist das so?«
Ihr Handy klingelte mit dem speziellen Klingelton, der Christoph vorbehalten war. Er wartete unten auf dem Parkplatz auf sie. Pia erhob sich mit einem Ächzen und angelte nach ihrer Tasche.
»Das macht mir echt zu schaffen.«
»Na, jetzt werd mal nicht philosophisch«, sagte Ostermann von der Tür aus. »Morgen erzähl ich dir alles über mich was du wissen willst.«
Pia grinste müde.
»Wirklich alles?«
»Klar.« Ostermann drückte auf den Lichtschalter. »Ich hab ja nichts zu verbergen.«
Auf der kurzen Fahrt von Hofheim nach Unterliederbach fielen Pia vor Erschöpfung die Augen zu. Sie bekam nicht mit, dass Christoph ausstieg, um das Hoftor zu öffnen. Als er sanft an ihrer Schulter rüttelte und ihre Wange küsste, schlug sie verwirrt die Augen auf.
»Soll ich dich ins Haus tragen?«, bot Christoph an.
»Lieber nicht.« Pia gähnte und grinste gleichzeitig. »Dann muss ich nächste Woche die Futtersäcke selber schleppen, weil du dir einen Bruch gehoben hast.«
Sie stieg aus und taumelte zur Haustür. Die Hunde begrüßten sie mit fröhlichem Gebell und forderten eine kurze Streicheleinheit. Erst als sie sich ihrer Jacke entledigte und die Stiefel von den Füßen streifte, fiel Pia der Termin mit dem Bauamt ein.
»Was ist eigentlich dabei herausgekommen?«, erkundigte sie sich. Christoph machte das Licht in der Küche an.
»Leider nichts Gutes«, antwortete er ernst. »Weder das Haus noch die Scheune sind jemals genehmigt worden. Und es ist so gut wie unmöglich, eine nachträgliche Genehmigung zu bekommen, wegen der Überlandleitungen.«
»Das kann doch nicht sein!« Pia hatte das Gefühl, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Das hier war ihr Haus, ihr Heim! Wo sollte sie denn hingehen mit all den Tieren? Sie starrte Christoph schockiert an. »Und jetzt? Was passiert jetzt?«
Er kam zu ihr, nahm sie in die Arme.
»Die Abrissverfügung bleibt bestehen. Mit einem Einspruch kann man das noch etwas herauszögern, aber leider nicht ewig. Außerdem gibt es noch ein kleines Problem.«
»Oh bitte nicht«, murmelte Pia, den Tränen nahe. »Was denn noch?«
»Eigentlich hat das Land Hessen ein Vorkaufsrecht für das Grundstück, weil irgendwann eine Autobahnabfahrt
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