Schneewittchen muss sterben
nicht mehr losgelassen hatte. Nie zuvor hatte er sich so einsam, so verlassen gefühlt, nicht einmal im Gefängnis. Da hatte er noch auf bessere Zeiten hoffen können, aber jetzt wusste er, dass sie nicht kommen würden. Sein Leben war vorbei.
Es dauerte einen Moment, bis Nadja ihn hereinließ. Er hatte schon befürchtet, sie sei nicht zu Hause. Er war nicht gekommen, um mit ihr zu schlafen, daran hatte er gar nicht gedacht, aber als sie jetzt vor ihm stand und verschlafen ins helle Licht blinzelte, das blonde Haar wirr auf ihren Schultern, so süß und warm, da durchzuckte ihn der Blitz des sexuellen Begehrens mit einer Heftigkeit, die er nicht für möglich gehalten hatte.
»Was …«, fragte sie, aber Tobias erstickte den Rest der Frage mit einem Kuss, zog sie an sich, wartete beinahe darauf, dass sie sich wehren, ihn von sich stoßen würde. Aber das Gegenteil war der Fall. Sie streifte ihm die nasse Lederjacke von den Schultern, knöpfte sein Hemd auf und schob sein T-Shirt hoch. Im nächsten Moment lagen sie schon auf dem Boden, er drang ungestüm in sie ein, spürte ihre Zunge in seinem Mund und ihre Hände auf seinem Hinterteil, die ihn drängten, härter und schneller zuzustoßen. Viel zu bald spürte er die Flutwelle heranrasen, die Hitze, die ihm den Schweiß aus allen Poren trieb. Dann brach es über ihn herein, so herrlich, so erleichternd, dass er aufstöhnte, ein Stöhnen, das zu einem dumpfen Schrei wurde. Mit rasendem Herzschlag lag er für ein paar Sekunden auf ihr und konnte kaum glauben, was er getan hatte. Er ließ sich zur Seite rutschen, blieb mit geschlossenen Augen auf dem Rücken liegen und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ihr leises Lachen veranlasste ihn dazu, die Augen zu öffnen. »Was ist?«, flüsterte er verwirrt.
»Ich glaube, wir müssen noch ein bisschen üben«, erwiderte sie. Mit einer grazilen Bewegung kam sie auf die Füße und hielt ihm die Hand hin. Er ergriff sie, erhob sich ächzend und folgte ihr ins Schlafzimmer, nachdem er sich seiner Schuhe und der Jeans entledigt hatte. Die Geister der Vergangenheit waren verschwunden. Wenigstens für den Moment.
Donnerstag, 13. November 2008
»Die Polizei war gestern bei mir.« Tobias pustete in den heißen Kaffee, den Nadja ihm eingeschenkt hatte. Gestern Nacht hatte er nicht von dem Thema anfangen wollen, aber nun musste er ihr davon erzählen. »Sie haben das Skelett von Laura auf dem alten Flughafen in Eschborn gefunden. In einem Bodentank.«
»Wie bitte?« Nadja, die gerade einen Schluck aus ihrer Tasse nehmen wollte, erstarrte mitten in der Bewegung. Sie saßen an dem Tisch aus grauem Granit in der Küche, an dem sie neulich schon gemeinsam zu Abend gegessen hatten. Es war kurz nach sieben, und vor den Panoramafenstern herrschte noch tiefe Dunkelheit. Nadja musste um acht Uhr ihren Flug nach Hamburg erwischen, wo die Außendreharbeiten für die neue Folge der Serie stattfanden, in der sie die Kriminalkommissarin spielte.
»Wann …« Sie stellte die Tasse ab. »Ich meine … woher wissen sie, dass es Laura ist?«
»Keine Ahnung.« Tobias schüttelte den Kopf. »Viel mehr haben sie nicht gesagt. Zuerst wollten sie auch gar nicht damit herausrücken, wo sie das Skelett gefunden haben. Der Oberbulle meinte nur, ich wisse ja wohl, wo.«
»O mein Gott«, stieß Nadja schockiert hervor.
»Nadja.« Er beugte sich vor und legte seine Hand auf ihre. »Sag mir bitte, wenn du willst, dass ich verschwinde.«
»Aber wieso sollte ich das denn wollen?«
»Ich sehe doch, dass es dir vor mir graut.«
»So ein Unsinn.«
Er ließ sie los, stand auf und wandte ihr den Rücken zu. Einen Moment kämpfte er mit sich selbst. Die halbe Nacht hatte er wach gelegen, hatte ihren regelmäßigen Atemzügen gelauscht und sich gefragt, wann sie seiner wohl überdrüssig werden würde. Schon jetzt fürchtete er sich vor dem Tag, an dem sie ihn mit verlegenen Ausreden abwimmeln, ihm ausweichen, sich vor ihm verleugnen lassen würde. Dieser Tag musste kommen. Er war nicht der richtige Mann für sie. Niemals würde er in ihre Welt, in ihr Leben passen.
»Dieses Thema lässt sich nicht einfach ausklammern«, sagte er schließlich mit belegter Stimme. »Ich bin wegen Mordes verurteilt worden und habe zehn Jahre im Knast gesessen. Wir können nicht einfach so tun, als sei das alles nie geschehen und wir wären noch zwanzig.«
Er drehte sich um. »Ich habe keine Ahnung, wer Laura und Stefanie umgebracht hat. Ich kann nicht
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