Schneewittchen muss sterben
das Protokoll gemacht hatte. »Körperverletzung, gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr und – je nachdem, wie der Staatsanwalt das beurteilt – fahrlässige Tötung oder sogar Totschlag.«
Manfred Wagner wurde noch eine Spur blasser. Sein Blick wanderte zu Pia und zurück zu Bodenstein. Er schluckte.
»Aber … aber … Rita lebt doch noch«, stammelte er.
»Das stimmt«, bestätigte Bodenstein. »Aber der Mann, auf dessen Windschutzscheibe sie gefallen ist, ist noch am Unfallort einem Herzinfarkt erlegen. Ganz abgesehen von dem Sachschaden an den Autos, die in den Unfall involviert waren. Diese Angelegenheit wird für Sie schwerwiegende Konsequenzen haben, und es war nicht gut, dass Sie sich nicht der Polizei gestellt haben.«
»Das wollte ich ja tun«, beteuerte Wagner mit weinerlicher Stimme. »Aber … aber die haben mir alle abgeraten.«
»Wen meinen Sie?«, fragte Pia. Jegliches Mitgefühl für den Mann war in ihr erloschen. Er hatte einen schlimmen Verlust erlitten, aber das rechtfertigte nicht seinen Angriff auf Tobias' Mutter.
Wagner zuckte die Schultern, blickte sie nicht an.
»Die alle«, erwiderte er, genauso vage wie Hartmut Sartorius wenige Stunden zuvor, als Pia ihn gefragt hatte, wer hinter den anonymen Drohbriefen und dem Angriff auf seinen Sohn stecke.
»Aha. Tun Sie immer, was
die alle
sagen?« Es klang schärfer als beabsichtigt, zeigte aber Wirkung.
»Sie haben doch keine Ahnung!«, fuhr Wagner auf. »Meine Laura war etwas ganz Besonderes. Sie hätte es zu was gebracht. Und sie war so schön. Manchmal konnte ich gar nicht glauben, dass sie wirklich mein Kind war. Und dann musste sie sterben. Wurde einfach weggeworfen, wie ein Stück Müll. Wir waren eine glückliche Familie, hatten gerade neu gebaut, draußen im neuen Gewerbegebiet, und meine Schreinerei lief gut. Im Ort waren wir eine gute Gemeinschaft, jeder war mit jedem befreundet. Und dann … verschwanden Laura und ihre Freundin. Tobias hat sie ermordet, dieses eiskalte Schwein! Ich hab ihn angebettelt, mir zu sagen, warum er sie ermordet hat und was er mit ihrer Leiche gemacht hat. Aber er hat es nie gesagt.«
Er krümmte sich und schluchzte haltlos. Bodenstein wollte schon das Aufnahmegerät abschalten, aber Pia hielt ihn zurück. Weinte Wagner wirklich aus Kummer um die verlorene Tochter oder aus purem Selbstmitleid?
»Hören Sie auf mit dem Theater«, sagte sie.
Der Kopf von Manfred Wagner fuhr hoch, er starrte sie so verblüfft an, als hätte sie ihm in den Hintern getreten. »Ich habe mein Kind verloren«, begann er mit zittriger Stimme.
»Das weiß ich«, schnitt Pia ihm das Wort ab. »Und dafür haben Sie mein ganzes Mitgefühl. Aber Sie haben noch zwei andere Kinder und eine Frau, die Sie brauchen. Haben Sie überhaupt nicht darüber nachgedacht, was es für Ihre Familie bedeutet, wenn Sie Rita Cramer etwas antun?«
Wagner blieb stumm, aber plötzlich verzerrte sich sein Gesicht.
»Sie wissen ja gar nicht, was ich mitgemacht habe in den letzten elf Jahren!«, schrie er zornig.
»Ich weiß aber, was Ihre Frau mitgemacht hat«, erwiderte Pia kühl. »Sie hat nicht nur ein Kind verloren, sondern auch ihren Mann, der sich vor lauter Selbstmitleid jeden Abend betrinkt und sie völlig im Stich lässt! Ihre Frau kämpft ums Überleben. Und was tun Sie?«
Wagners Augen begannen zu funkeln. Pia hatte offenbar eine wunde Stelle getroffen.
»Was geht Sie das an, zum Teufel?«
»Wer hat Ihnen geraten, sich nicht der Polizei zu stellen?«
»Meine Freunde.«
»Etwa dieselben Freunde, die tatenlos zusehen, wie Sie sich jeden Abend im Schwarzen Ross volllaufen lassen und Ihre Existenz aufs Spiel setzen?«
Wagner öffnete den Mund zu einer Entgegnung, sagte aber nichts. Sein feindseliger Blick wurde unsicher, glitt zu Bodenstein.
»Ich lass mich hier nicht fertigmachen.« Seine Stimme schwankte. »Ohne einen Anwalt sag ich keinen Ton mehr.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust und presste das Kinn auf die Brust, wie ein trotziges Kind. Pia sah ihren Chef an und hob die Augenbrauen. Bodenstein drückte auf die Stopp-Taste des Aufnahmegerätes.
»Sie dürfen nach Hause gehen«, sagte er.
»Bin ich … bin ich nicht … verhaftet?«, krächzte Wagner erstaunt.
»Nein.« Bodenstein stand auf. »Wir wissen ja, wo wir Sie finden können. Der Staatsanwalt wird Anklage gegen Sie erheben. Einen Anwalt brauchen Sie auf jeden Fall.«
Er öffnete die Tür; Wagner wankte an ihm vorbei, begleitet von dem Beamten,
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