Schneewittchen muss sterben
Flur, ein Klopfen an der Tür. »Tobias?« Das war sein Vater.
»Ja, komm rein.« Er drehte den Wasserhahn auf, ließ kaltes Wasser in die hohlen Hände laufen und trank ein paar Schlucke. Es schmeckte widerlich. Die Tür ging auf. Sein Vater musterte ihn besorgt.
»Wie geht es dir?«
Tobias setzte sich wieder auf die Klobrille. »Total beschissen.« Es bedurfte einer unendlichen Anstrengung, den bleischweren Kopf anzuheben. Er bemühte sich, seinen Vater anzusehen, aber sein Blick rutschte immer wieder weg. Erst war alles ganz nah, dann weit weg. »Wie viel Uhr ist es?«
»Halb vier. Sonntagnachmittag.«
»O Gott.« Tobias kratzte sich am Kopf. »Ich vertrag wohl echt nichts mehr.«
Die Erinnerung kehrte zurück, wenigstens teilweise: Nadja war bei ihm gewesen, oben, am Waldrand, sie hatten geredet. Danach hatte Nadja ihn nach Hause gefahren, weil sie dringend zum Flughafen musste. Aber was hatte er dann getan? Jörg. Felix. Die Garage. Jede Menge Alkohol. Jede Menge Mädchen. Er hatte sich nicht wohl gefühlt. Warum nicht? Wieso war er überhaupt dahin gegangen?
»Der Vater von Amelie Fröhlich hat eben angerufen«, sagte sein Vater gerade. Amelie! Irgendetwas war auch mit ihr gewesen. Ach ja! Sie hatte ihm irgendetwas Wichtiges erzählen wollen, aber dann war Nadja aufgetaucht, und Amelie war weggelaufen.
»Sie ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen.« Der dringliche Unterton in der Stimme seines Vaters ließ ihn aufhorchen. »Ihre Eltern machen sich Sorgen und wollen die Polizei informieren.«
Tobias starrte seinen Vater an. Er brauchte einen Moment, bis er begriff. Amelie war nicht nach Hause gekommen. Und er hatte Alkohol getrunken, sehr viel. Genau wie damals. Sein Herz krampfte sich zusammen.
»Du … du glaubst doch wohl nicht, dass ich etwas damit …«, er brach ab und schluckte.
»Frau Dr. Lauterbach hat dich gestern Nacht an der Bushaltestelle vor der Kirche gefunden, als sie von einem Notfalleinsatz zurückkam. Es war halb zwei. Sie war es, die dich nach Hause gebracht hat. Wir hatten alle Mühe, dich aus dem Auto und hoch in dein Zimmer zu bekommen. Und du hast immer wieder von Amelie geredet…«
Tobias schloss die Augen und verbarg sein Gesicht in den Händen. Er versuchte verzweifelt, sich zu erinnern. Aber da war – nichts. Die Freunde in der Garage, die kichernden, tuschelnden Mädchen. War Amelie auch dabei gewesen? Nein. Oder doch? Nein. Bitte nicht. Bitte, bitte nicht.
Montag, 17. November 2008
Das komplette K11 hatte sich im Besprechungsraum rings um den großen Tisch versammelt; bis auf Hasse waren alle anwesend, sogar Behnke, der noch mürrischer als sonst dreinblickte.
»Entschuldigung«, sagte Pia und steuerte den letzten freien Stuhl an. Sie zog ihre Jacke aus. Nicola Engel warf einen demonstrativen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Es ist zwanzig nach acht«, bemerkte sie scharf. »Wir sind hier nicht bei den Rosenheim-Cops. Organisieren Sie Ihre Bauernhofarbeit in Zukunft bitte so, dass sie nicht mit Ihren Dienstzeiten kollidiert!«
Pia spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht sprang. So eine blöde Kuh!
»Ich war noch in der Apotheke und habe mir etwas gegen Erkältung besorgt«, erwiderte sie mit derselben Schärfe. »Oder wäre es Ihnen lieber, ich würde mich auch noch krankschreiben lassen?«
Die beiden Frauen starrten sich einen Augenblick an.
»Dann sind jetzt wohl alle anwesend«, sagte die Kriminalrätin, ohne sich für ihre ungerechtfertigte Unterstellung zu entschuldigen. »Wir haben ein verschwundenes Mädchen. Die Kollegen aus Eschborn haben uns heute Morgen davon unterrichtet.«
Pias Blick wanderte durch die Runde. Behnke hing breitbeinig auf seinem Stuhl und kaute heftig auf seinem Kaugummi herum. Immer wieder starrte er provokativ zu Kathrin hinüber, die seine Blicke mit zusammengepressten Lippen feindselig erwiderte. Pia erinnerte sich, dass Bodenstein letzte Woche auf Betreiben von Dr. Engel ein Gespräch mit Behnke geführt hatte. Was war dabei herausgekommen? Auf jeden Fall schien Behnke zu wissen, dass Kathrin dem Chef ihre Begegnung in der Sachsenhäuser Kneipe gemeldet hatte. Die Spannung zwischen den beiden war nicht zu übersehen. Bodenstein saß am Kopfende des Tisches und blickte starr auf die Tischplatte. Sein Gesicht war ausdruckslos, aber die Schatten unter seinen Augen und die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen verrieten, dass irgendetwas mit ihm nicht in Ordnung war. Auch Ostermann machte einen ungewohnt missmutigen
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