Schneewittchen-Party
Bibelübersetzungen vorgelesen, und die haben überhaupt keinen literarischen Wert. Wir sollen auch die schöne Prosa und die Blankverse der alten Übersetzung kennen lernen. Die Geschichte von Jael und Sisera hat mir großen Spaß gemacht«, fügte sie hinzu. »Das ist etwas«, sagte sie nachdenklich, »worauf ich selbst nie gekommen wäre. Jemandem einen Nagel in den Kopf zu schlagen, während er schläft, meine ich.«
»Das möchte ich aber auch nicht hoffen«, sagte ihre Mutter.
»Und wie würdest du dich deiner Feinde entledigen, Miranda?«, fragte Poirot.
»Ich würde sehr sanft sein«, sagte Miranda. »Das wäre zwar sehr viel schwieriger, aber ich würde es lieber so haben, weil ich es hasse, jemand wehzutun. Ich würde eine Droge nehmen. Davon schläft man ein und hat schöne Träume und wacht einfach nicht wieder auf.« Sie stellte die Tassen und Teller auf das Teebrett. »Ich wasche ab, Mami«, sagte sie, »wenn du Monsieur Poirot den Garten zeigen möchtest. Ganz hinten blühen noch ein paar Rosen.«
Mit dem Teebrett verließ sie vorsichtig das Zimmer.
»Miranda ist ein erstaunliches Kind«, sagte Mrs Oliver.
»Sie haben eine sehr schöne Tochter, Madame«, sagte Poirot.
»Ja, jetzt sieht sie noch hübsch aus. Man weiß nur nie, wie sie aussehen, wenn sie größer werden. Dann bekommen sie Kälberspeck und sehen manchmal wie gut genährte Schweinchen aus. Aber jetzt ist sie wie eine Nymphe.«
»Kein Wunder, dass sie so gern im Steinbruchpark ist.«
»Manchmal wünschte ich, sie ginge nicht so gern da hin«, sagte Mrs Butler. »Ich werde immer ängstlich, wenn sie da so einsam herumwandert, auch wenn es ganz nah am Dorf ist. Ich – oh, heutzutage hat man immerzu Angst. Und darum – darum müssen Sie herausfinden, warum Joyce so etwas Schreckliches zugestoßen ist, Monsieur Poirot. Denn solange wir das nicht wissen, fühlen wir uns keine Minute sicher – mit unsern Kindern, meine ich. Geh schon mit Monsieur in den Garten, ja, Ariadne? Ich komme gleich.«
Sie nahm die restlichen Tassen und Teller und ging in die Küche. Poirot und Mrs Oliver gingen durch die Terrassentür in den Garten. Mrs Oliver marschierte schnell an Goldruten, Astern und Rosen vorbei, ließ sich schwer auf einer Steinbank nieder und winkte Poirot, an ihrer Seite Platz zu nehmen.
»Wie finden Sie Judith?«, fragte sie.
»Ich finde, Judith müsste eigentlich Undine heißen«, sagte Poirot.
»Eine Nixe, ja. Ja, sie sieht wirklich aus, als wenn sie eben aus dem Rhein gestiegen sei oder aus dem Meer oder einem Waldteich. Aber trotzdem wirkt sie doch gar nicht merkwürdig oder verrückt, nicht?«
»Sie ist eine sehr schöne Frau.«
»Was für einen Eindruck haben Sie denn von ihr?«
»Bis jetzt hatte ich noch keine Zeit, einen richtigen Eindruck von ihr zu bekommen. Aber ich meine, dass sie eine sehr schöne und attraktive Frau ist und dass irgendetwas sie stark beunruhigt.«
»Na sicher, das ist doch natürlich.«
»Was mich aber viel mehr interessieren würde, Madame, ist Ihre Meinung über Mrs Butler.«
»Ich habe sie auf der Seereise sehr gut kennen gelernt. Sie wissen ja, bei solchen Gelegenheiten schließt man oft enge Freundschaften.«
»Vor der Reise haben Sie sie nicht gekannt?«
»Nein.«
»Aber Sie wissen einiges über sie?«
»Na ja, so das Übliche. Sie ist verwitwet«, sagte Mrs Oliver. »Ihr Mann ist vor vielen Jahren gestorben – er war Pilot. Er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er hat sie, glaube ich, ziemlich mittellos zurückgelassen. Sein Tod hat sie sehr mitgenommen. Sie redet nicht gern von ihm.«
»Ist Miranda ihr einziges Kind?«
»Ja. Judith hilft hier in der Nachbarschaft manchmal halbtags als Sekretärin aus, aber sie hat keine feste Stelle.«
»Kannte sie die Leute aus dem Haus am Steinbruch?«
»Sie meinen Oberst und Mrs Weston?«
»Ich meine die frühere Eigentümerin, Mrs Levin-Smith.«
»Das glaube ich schon. Ich glaube, sie hat den Namen erwähnt. Aber sie ist schon zwei oder drei Jahre tot, und deshalb wird natürlich nicht mehr viel von ihr geredet. Genügen Ihnen denn die Leute nicht, die am Leben sind?«, fragte Mrs, Oliver leicht irritiert.
»Ganz sicher nicht«, sagte Poirot. »Ich muss auch nach denen fragen, die gestorben oder verschwunden sind.«
»Wer ist verschwunden?«
»Ein Au-pair-Mädchen.«
»Ach so«, sagte Mrs Oliver. »Die verschwinden doch immerzu. Ich meine, sie kommen her und bekommen ihr Fahrgeld bezahlt, und dann gehen sie gleich ins
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