Schneewittchens Tod
dann rittlings auf ihn zu setzen und ihn auf dem Bauch am Boden zu halten. Der Junge wand sich unter ihm, doch Chib hielt ihn an den Handgelenken fest.
»Hör auf, mit dem Hintern zu wackeln wie ein Mädchen!«
»Seien Sie still! Sie haben kein Recht dazu.«
»Mir egal, ich habe die Schnauze voll von deiner Familie, ich habe die Schnauze voll von dir. Ich will die Wahrheit wissen.«
»Lassen Sie mich!«
Er wehrte sich nicht mehr, stöhnte nur noch, und plötzlich wurde Chib bewusst, dass der Junge sich, eingeklemmt zwischen seinen Schenkeln, auf und ab bewegte. Er ließ ihn los und stand schnell auf.
Charles drehte sich um. Er lachte und hatte, wie Chib feststellen konnte, eine Erektion unter dem leichten Stoff des marineblauen Jogginganzugs.
»Was ist?«, fragte er hämisch grinsend. »Verhören Sie mich nicht weiter? Wollen Sie nicht wissen, was Costa und ich getrieben haben? Was er mit mir gemacht hat? Wie oft? Wo? Soll ich es Ihnen zeigen?«
Er streckte die Hand aus, als wolle er an den Reißverschluss seiner Hose greifen.
»Hör auf mit dem Blödsinn. Ich will die Wahrheit, das ist alles.«
»Wie blöd Sie sein können!«, sagte Charles nur und ging zur Tür. »Borniert und blöd! Der Kleinbürger in Reinkultur.«
Die Tür fiel zu, Chib stand fassungslos da und spürte echte Mordgelüste. Gut, beruhige dich, mein Alter. Tief durchatmen. Analysieren. Du hast ein Tonband in der Tasche. Charles hat dir sein Verhältnis mit Costa gestanden. Du hast zu Hause den akustischen Beweis dafür, dass Elilou vergewaltigt wurde. Nein, falsch, man hat dir die Aufnahme vorgespielt, und du bist der Einzige, der sie gehört hat. Bringt dich das etwa weiter? Nein, nicht im Geringsten, außer dass die allgemeine Verwirrung noch größer wird.
Er öffnete leise die Tür, strich über den weißen Hasen, der sie zierte, und ging nach unten. Die Stimmen von Blanche und Belle-Mamie im angeregten Gespräch über die Gewinne für die Tombola.
»Wer hat denn Sie verprügelt?«
Louis-Marie kam mit einer Flasche Trinkjoghurt aus der Küche. Chib fragte sich eine Sekunde lang, wovon er sprach, dann legte er die Hand ans Kinn. Im Augenblick selbst hatte er nichts gespürt, aber plötzlich war der Schmerz da, gut fühlbar.
»Ich bin hingefallen.«
Louis-Marie lächelte.
»Das würde mich aber wundern. Meiner Meinung nach haben Sie sich geprügelt.«
»Um wie viel Uhr bist du heute Morgen weggegangen?«
»Ich habe den Bus um sieben Uhr fünfundvierzig genommen, warum?«
»Und Charles?«
»Charles hatte erst um neun Schule. Wessen werden wir denn verdächtigt?«
»War Costa schon da, als du gegangen bist?«
Louis-Marie trank einen Schluck Joghurt und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.
»Ach so«, sagte er mit der Miene des Komplizen. »Sie wollen wissen, ob ich Sie mit ihm gesehen habe.«
Chib sah ihn verblüfft an. Was stellte sich dieser Bengel denn vor?
»Sie haben sich mit ihm gestritten, er hat auf Sie eingedroschen, Sie haben zurückgeschlagen, und er ist gestürzt, was?«
»Unsinn!«
Louis-Marie zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
»Keine Sorge, ist mir sowieso egal. Costa war ein Dreckskerl; jetzt kann er wenigstens Charles nichts mehr antun.«
»Warte mal!«
Chib hatte den Eindruck, dass alle den Text des Stücks kannten, das hier gespielt wurde, nur er nicht. Er artikulierte laut und deutlich: »Ich habe mich nicht mit Costa gestritten. Er hat mich nicht geschlagen, ich habe ihn nicht gestoßen, okay?! Ich bin heute Morgen hierher gekommen, und Pater Dubois kann bezeugen, dass ich nicht verletzt war, okay?!«
»Warum werden Sie denn so wütend?«
»Weil du mich des Mordes beschuldigst!«, fauchte er, bemüht, seine Stimme zu beherrschen.
»Fahrlässige Tötung«, berichtigte der Junge, »so nennt man das. Sehen Sie denn nie fern? Costa ist um sieben gekommen«, fügte er hinzu.
Der Mord war also zwischen sieben und neun Uhr fünfzehn geschehen, denn zu diesem Zeitpunkt hatte Chib die Leiche entdeckt. Das brachte nichts Neues. Louis-Marie wollte an ihm vorbei, um die Treppe hinaufzulaufen. Chib hielt ihn am Arm zurück.
»Ging die Sache zwischen Costa und Charles weiter? Obwohl dein Vater Bescheid wusste?«
Ein leichtes Zittern unter seinen Fingern.
»Ich habe keine Lust, darüber zu reden.«
Er griff fester zu, war jetzt kurz vorm Explodieren.
»Soll ich die Frage lieber deinem Vater stellen? Oder deiner Mutter?«
Louis-Marie hob den Kopf und richtete seine Augen, die so grau waren wie
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