Schneewittchens Tod
sich jemandem anzuvertrauen. Denn bislang war ihm Dubois einigermaßen robust und verlässlich - wenn auch völlig unsympathisch - vorgekommen. Die Anker gaben einer nach dem anderen nach, bald würde Titanic-Moreno von reißenden Fluten davongetragen werden. Er spürte, wie sich die Hand des Priesters auf seine Schulter legte.
»Sie sind müde, Moreno, müde, verliebt, entmutigt und ungläubig. Da brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn Sie den Halt verlieren.«
»Wissen Sie etwas?«
Chib packte Dubois am Revers seiner Jacke. Er besann sich und ließ ihn sogleich wieder los. Er sagte sich, dass er am Ende war. >Scheiß auf deinen Tode, wie es Greg so elegant formuliert hatte.
»Ich weiß nicht mehr als Sie«, entgegnete Dubois und rückte das an seinem Kragen festgesteckte Kreuz zurecht.
»Aber Sie verdächtigen jemanden, stimmt's?!«, erregte sich Chib.
»Wir sind nur Masken, Moreno, Masken aus Fleisch für die leidenden Seelen. Welchen Unterschied gibt es zwischen der einen und der anderen Maske?«
»Ich spreche von Vergewaltigung, von Mord, von Psychopathen, nicht von Dämonen mit Pferdefüßen!«
»Eben da liegt ja das Problem. Sie sprechen von Äußerlichkeiten.«
»Okay«, knurrte Chib, »also hinter welchem Äußeren verbirgt sich Ihrer Meinung nach unser dämonischer Irrer?«
»Warum nicht hinter dem Ihren?«, entgegnete Dubois mit einem hämischen Lächeln. »Sie haben Zugang zu allem, Sie kennen alle Protagonisten … Vielleicht hat Elilous plötzlicher Tod Sie in das mentale Chaos eines Films getrieben, bei dem Sie Autor, Regisseur und Darsteller sind?« »Das ist nicht witzig.«
»Gut, dann vielleicht hinter dem meinen? Ein Mann Gottes, der der Versuchung erliegt, was gäbe es Amüsanteres für Satan?«
Chib betrachtete ihn aufmerksam. Die stechenden Augen des Priesters funkelten, seine Nasenflügel bebten, der Adamsapfel hüpfte auf und ab. Er war also betroffener, als er zugeben wollte. Oder vollständig verrückt.
»Aber Dubois, wo bleiben Sie denn«, zeterte die Stimme von Belle-Mamie auf der anderen Seite der Tür. Der Priester fuhr herum, räusperte sich und antwortete: »Ich bin hier, ich komme.«
Er ging hinaus und ließ Chib im Halbdunkel zurück.
»Wir haben Sie überall gesucht! Der Traiteur will nicht mit sich reden lassen und .«
Die Stimmen entfernten sich. Chib ließ sich auf eine Bank sinken.
Der Christus weinte noch immer an seinem Holzkreuz. Elilou kämpfte gegen die Verwesung an. Ein goldbrauner Skarabäus floh vor einem Lichtstrahl. Der Staub tanzte. Hinter ihm quietschte die Tür. Reflexartig, ohne nachzudenken, ließ er sich zwischen den Bankreihen auf den Boden gleiten.
Schritte auf den Fliesen.
Schritte, die näher kamen.
Dunkelblaue Lederschuhe, Waden in durchsichtigen Nylonstrümpfen, der Saum eines ebenfalls marineblauen Faltenrocks. Chib fühlte sein Herz schneller schlagen. Die Schritte gingen weiter . Er hob den Kopf, um sie zwischen den Bänken hindurch sehen zu können.
Sie blieb vor dem gläsernen Sarg stehen und legte die Hände flach auf den Deckel, den Blick auf ihr totes Kind gesenkt. Die blonden Haare verdeckten einen Teil des Gesichts. Er sah, wie sie sich vorbeugte, wie sich ihre Lippen auf die kalte, durchsichtige Fläche legten, unbarmherzig transparent und unüberwindlich. Dann warf sie den Kopf zurück und stieß ein langes Wimmern aus. Etwas zwischen Schluchzen und Wut. Sie wandte sich zum Altar und fegte, noch immer wimmernd, die Vase mit den frischen Blumen herunter, sank auf die Knie, und er sah, wie sie nach der weiß-goldenen Altardecke griff, und, einen Zipfel zu einer Kugel gerollt, sich in den Mund stopfte, um ihren Schrei zu ersticken, er sah Tränen über ihre Wangen rinnen und in ihren Augen die ewige und nie erhörte Klage, die einen fast an die Zärtlichkeit des Todes glauben lässt. Er erhob sich, lief zu ihr, hockte sich neben sie und zog sie an sich, ohne ihr eine Möglichkeit zur Verteidigung zu lassen.
Widerstand.
Heftiges Winden, Kopfschütteln, er blieb standhaft, sie biss ihn, schlug die Zähne in seine Schulter, es war ihm egal, er zog sie an sich, sie gab nach, gab plötzlich nach wie ein Deich, der nicht mehr standhält, zerstört und ausgehöhlt, gab sie nach, brach an seiner Brust zusammen, Zucken, seine Hände auf ihren zarten Schultern: Er presste sie an sich, zu fest, die Arme ganz um sie geschlungen, ihre Lippen an seinem Hals, glühender Atem, eiskalte Haut, er wollte Dinge sagen, die sie nicht hören
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