Schneewittchens Tod
herauszufinden, wer dahinter steckt oder Anzeige wegen versuchten Mordes zu erstatten.«
»Aber ist Ihnen klar, was das für einen Skandal gibt?«
»Was geht mich das an? Dieses Mistding hat man in meinem Kopf gefunden, nicht in Ihrem«, schrie Chib und deutete auf den Plastikbecher mit der Kugel.
»Wow! Hast du das gesehen, Charles, unglaublich!«, rief Louis-Marie, die Nase über dem Becher.
»Ganz ruhig!«, befahl Jean-Hugues und erhob sich. »Ehrlich gesagt, wäre es mir sehr lieb, wenn Sie im Moment Ihre Nachforschungen fortsetzen würden, ohne die Ordnungskräfte einzuschalten. Beim Tod unseres kleinen Leon hatten wir mit der Polizei zu tun«, fügte er hinzu und senkte unbewusst die Stimme, »das war sehr schwer, all diese Fragen … die Verdächtigungen . Können Sie sich vorstellen, dass man die Jungen stundenlang verhört hat? Wie alt war Charles? Fünf, und Louis-Marie vier! Und meine Frau! Sie hat monatelang unter einem Trauma gelitten. Das möchte ich nicht noch einmal erleben, verstehen Sie?«
»Und ich möchte überhaupt leben«, entgegnete Chib, was die Jungen laut auflachen ließ. »Also möchte ich zuerst wissen, ob Sie eine Waffe mit einem Acht-Millimeter-Kaliber besitzen.«
Andrieu schüttelte den Kopf.
»Sie haben ja den Waffenschrank gesehen, Sie wissen, dass dem nicht so ist.«
Chib ließ die verschlossenen Waffen vor seinem geistigen Auge Revue passieren, von der Long Rifle bis zur Walther und der Smith & Wesson.
»Gut«, sagte er schließlich erschöpft. »Wir setzen die Untersuchungen fort, aber, ehrlich gesagt, bin ich der Meinung, dass das alles unsere Kompetenzen überschreitet.«
Andrieu drückte ihm sichtlich erleichtert die Hand und verabschiedete sich. Auf der Schwelle drehte sich Charles um und zwinkerte ihm zu, was ihm sofort einen Rippenstoß seines Bruders einbrachte.
Chib ließ vorsichtig seinen schmerzenden Kopf auf das Kissen sinken. Er wusste genau, dass er eigentlich zur Polizei gehen müsste. Die Sache wurde zu gefährlich. Warum tat er es nicht? Warum verhielt er sich so kindisch? Aus Wichtigtuerei?
Willst du Greg nachmachen oder was? Oder weil du Angst vor dem hast, was du entdecken wirst, säuselte ihm eine böse kleine Stimme zu. Und wenn Blanche den Karabiner in der Hand gehabt hätte? Und ihre Kinder umgebracht hätte? Hast du davor Angst, mein kleiner Chib?
Blanche ist keine Mörderin, sie ist vielleicht ein bisschen -ziemlich, Chib, ziemlich - gestört, aber sie ist nicht >schlecht<. Sie hat nicht über dem Familienfoto masturbiert und auch ihre Tochter nicht entjungfert.
Außer natürlich, sie hätte einen Komplizen.
Ach, er würde sich morgen darum kümmern. Morgen ist ein anderer Tag.
Am Samstagmorgen um acht Uhr war er angezogen und bereit zum Aufbruch. Sein Anzug war nicht gereinigt worden, und er hatte angewidert das Hemd übergestreift, das nach Schweiß roch und mit getrockneten Blutflecken übersät war. Er hatte gehofft, Aicha würde ihm saubere Sachen bringen, aber sie hatte gesagt, sie könne nicht lange genug weg, um zu seiner Wohnung zu gehen. Greg war zum Genua-Barcelona-Match in Italien, und Gaelle saß bis zum Abend in der Uni fest. Die Einsamkeit des Undercover-Detektivs. So stand er draußen und blinzelte in die Sonne. Aicha wusste, dass er an diesem Morgen entlassen wurde, und während er zur Bushaltestelle ging, stellte er sich für einen Augenblick vor, wie Blanches Chrysler Serbing heranrauschen und vor ihm anhalten würde. Stattdessen hielt der Bus mit quietschenden Bremsen, und der Fahrer schimpfte, weil er nur einen Zwanzig-Euro-Schein hatte.
Während sich der Bus, im morgendlichen Stau gefangen, langsam die Hügel hinaufschraubte, widerstand er erneut dem Drang, an den dicken Verband an seinem linken Ohr zu fassen, unter dem es ihn juckte. Er musste zugeben, dass er sehr schlecht gelaunt war. Hätte es sich einem Mann gegenüber, der beinahe auf einem ihrer Gartenstühle erschossen worden war, nicht gehört, ihn vom Krankenhaus abzuholen? Er ließ die Fingergelenke knacken und legte die Hände auf seine Knie. Er könnte sie sich sehr gut um Blanches Hals gelegt vorstellen, wie sie fest zudrückten. Unsinn, sie würden nur zärtlich an ihm hinuntergleiten zu ihrer weichen Brust.
Er stieg an einer Haltestelle an der Nationalstraße aus. Zweihundert Meter zwischen Olivenbäumen den Hang hinauf. Tief einatmen, die Luft ist rein. Ausgezeichnet, um wieder gesund zu werden. Trotz der kühlen Morgenbrise begann er zu schwitzen und
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