Schneewittchens Tod
hastiger Stimme sprach. »Kommen Sie schnell!«, sagte sie. Er sah, dass Belle-Mamie sich erhoben hatte, dass ihr Patriziergesicht einen entsetzen und ungläubigen Ausdruck angenommen hatte. Blanche legte auf. »Sie sind gleich da«, sagte sie, »er darf sich nicht bewegen.«
Man sprach von ihm. Er war verletzt. Eine Kugel. Kinder spielen mit Kugeln, mit Murmeln. Schießen mit echten Kugeln. Eine echte Kugel? In meinem Kopf? Unmöglich. Eine Kugel im Kopf, und man ist tot. Der Schädel explodiert, das Hirn spritzt. Man kann nicht laufen, nicht reden. Er sah erneut auf seine Hände, auf das klebrige Blut an seinen Fingern. Sein Blut. Vielleicht war er ja auch schon tot, und ein anderer Thanatopraktiker hatte begonnen, ihn zu entleeren. Nein, der Schmerz war lebendig. Er musste sich also der Tatsache beugen, wie man sich dem überlegenen Feind beugt, widerwillig, aber unausweichlich. Er musste also anerkennen, dass ein Stück möglicherweise tödliches Metall irgendwo in der Nähe seines Gehirns steckte. Er schloss die Augen.
»Sehen Sie sie?«, fragte er im Flüsterton, so, als fürchte er, das Geschoss zu wecken.
»Nein«, antwortete Dubois genauso leise. »Aber offenbar gibt es kein Loch, durch die sie ausgetreten ist.«
»Wo ist sie?«
»Im Nacken, rechts vom Halswirbel.«
Zwischen seinem verlängerten Rückenmark und seinem Kleinhirn also. Wie viele Millimeter von totaler Lähmung und definitiver Verblödung entfernt?
»Hat niemand meine Partitur gesehen, ich …«
Louis-Marie verstummte abrupt.
»Welche Partitur?«, fragte Andrieu, den Blick auf Chibs blutigen Nacken gerichtet.
»Du weißt schon, die von Debussy«, antwortete der Junge.
»Was ist passiert?«
»Man hat auf mich geschossen, ich habe eine Kugel im Kopf«, informierte ihn Chib ruhig.
»Ist das ein Witz?«
»Louis-Marie«, knurrte sein Vater, »sieht das etwa nach einem Witz aus?«
»Aber . man kann doch nicht .«
»Nun, wie du siehst, kann man!«, unterbrach ihn Dubois.
»Mach dich nützlich und sag Aicha, sie soll das Tor aufmachen, wir warten auf den Krankenwagen.«
»Aber wie ist das passiert?«
»Richtig«, pflichtete Belle-Mamie bei, »wo ist das passiert?«
»Auf einem Stuhl im Hof.«
»Mein Gott«, rief sie theatralisch aus, »auf unserem Hof?«
Nein, an dem des Sonnenkönigs, während meiner letzten Reise zurück in die Zeit. Er antwortete nicht. Er wünschte sich, dass Blanche die Hand auf seine Stirn legen und ihm sagen würde, dass sie sich Sorgen mache. Keine Bange, Chib, das passiert mit Sicherheit nicht, nicht einmal, wenn du krepierst. Übrigens bist du dabei zu krepieren. Und sie sieht aus dem Fenster, ebenso weiß wie ihre Seele, ausgewaschen von den Tränen, die sie nie vergießt und in denen sie mit jeder Sekunde tiefer versinkt.
»Wer hat auf Sie geschossen?«
Alle wandten sich zu dem Jungen um, der den Kopf zwischen die Schultern zog.
»Nun, die Frage ist doch wohl logisch, oder?«
»Ich weiß nicht«, sagte Chib, »ich habe nichts gesehen. Ich habe nur Schritte hinter mir gehört.«
Andrieu schien plötzlich zu erwachen.
»Mein Gott, ich hoffe, dass .«
Er lief aus dem Zimmer.
»Papa?«, rief Louis-Marie und rannte ihm nach, »Papa?«
Das entfernte Echo einer Sirene, das sich näherte. Chib spürte, wie ihm der Schweiß, vermischt mit Blut, über den Nacken und den Oberkörper rann, aber er wollte nicht die Hand heben, um ihn abzuwischen. Die Sirene. Der süße Gesang der Sirene. War Costa erst heute Morgen gestorben? Aber ja. Tod am Morgen, Kummer und Sorgen, Tod am Abend .
»Es scheint ihm schlecht zu gehen, er verdreht die Augen.«
Belle-Mamies Stimme mit leicht missbilligendem Unterton.
Tut mir Leid, wenn ich nicht korrekt krepiere. Eine Hand auf seinem Arm. Er versuchte, seinen Blick auf den Tisch zu richten. War er für ein paar Minuten eingeschlafen?
Ihre Hand. Die blassrosafarbenen Nägel. Ihre bleiche Hand. Die Finger, die leicht seinen Arm umschlossen, wie zuvor sein Geschlecht. Er fröstelte.
»Ich bin da«, murmelte er.
»Alles ist da, im Waffenschrank fehlt nichts«, rief Andrieu außer Atem und deutlich erleichtert.
Stürmisches Klingeln. Getöse. Schnelle Schritte. Männerstimmen, eine darunter sehr bestimmt.
»Sehen wir mal …«
Man berührte ihn, beklopfte ihn, fühlte seinen Puls, maß den Blutdruck, man untersuchte seine Pupillen, befahl ihm, den Kopf vorzuneigen, vorsichtig, so, man gab ihm eine Spritze, eine Trage in seinem Blickfeld, Schuhe, ein Stethoskop.
»Na,
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