Schneewittchens Tod
nicht. Aber mein Vater. Also kenne ich mich mit Jagdgewehren aus. Solche Unfälle kommen häufig vor. Gut, ich muss gehen . Ich werde mich etwas hinlegen. Ich nehme an, Ihre Freunde haben die Polizei informiert«, führte er ruhig hinzu. »Das ist nicht mein Job. Ich habe nur den Eingriff vermerkt. Entfernung eines Fremdkörpers hinter dem linken Hinterhauptlappen.«
Als er allein war, sagte sich Chib, dass der junge Arzt wohl einen ausgearteten Familienzwist vermutete. Ein tragikomisches Eifersuchtsdrama. Er lehnte sich in die Kissen zurück. Würde Blanche ihn besuchen? Träum nur, Chib, träum weiter!
Wer hatte auf ihn geschossen und warum? Näherte er sich der Wahrheit so sehr, dass der Schuldige nervös wurde? Auf jeden Fall handelte es sich nicht um einen Scharfschützen. Er hatte sein Ziel verfehlt, obwohl er sicher nicht mehr als zwanzig Meter entfernt gewesen war, denn Chib hatte die Schritte auf dem Kies gehört. Warum war er nicht näher gekommen? Um nicht in den Schein der Laternen zu treten, die den Hof erleuchteten? Und die Detonation? Warum hatte niemand die Detonation gehört? War doch klar, Chib: Sie war im Getöse des Videospiels untergegangen, das passenderweise gerade lief. Da hatte jemand Interesse an einer guten Geräuschkulisse für Actionszenen gehabt .
Er suchte eine bequemere Lage, trank einen Schluck Wasser und gähnte. Er fühlte sich völlig benommen. Sicher die Nachwirkung der Anästhesie. Er würde später nachdenken. Sich zuerst etwas ausruhen. Sich vom Regen forttragen lassen, der an der Scheibe herunterlief, den flüssigen Vorhang mit dem beruhigenden Rauschen durchqueren, auf dem Wasser dahintreiben, weit entfernt von den nebligen Ufern, wo sich die Fragen, schwer wie Bleisohlen, in den Treibsand bohrten.
Als er diesmal wieder zu sich kam, regnete es nicht mehr. Über dem Park, der das Krankenhaus umgab, graute der Morgen und tauchte die hundertjährigen Pinien in ein zartes Rosa. Er hatte Hunger. Er hörte das Rollen eines Teewagens auf dem Gang, die Stimmen der Schwesternhelferinnen, irgendwo eine Klingel, Türen, die sich öffneten und wieder schlossen. Er setzte sich auf und betastete seinen Verband. Ein leichter, diffuser Schmerz. Er drehte den Kopf, der Schmerz wurde deutlicher. Finito mit den hektischen Untersuchungen des furchtlosen Moreno. Ab in die Hütte, Opa, sagte er sich, als man ihm das Frühstück brachte.
Nachmittags bekam er Besuch vom männlichen Zweig der Familie Andrieu. Charles und Louis-Marie interessierten sich für die verschiedenen Apparaturen, während Jean-Hugues mühsam Konversation betrieb.
»Haben Sie die Polizei informiert?«, unterbrach ihn Chib mitten im Satz.
»Nun … ehrlich gesagt, nein«, erklärte Andrieu. »Ich habe mir gesagt, Sie würden selbst Anzeige erstatten. Sie sind der Einzige, der weiß, was geschehen ist, nicht wahr?«
»Es gab einen Schützen auf Ihrem Hof«, erwiderte Chib, »jemanden, der versucht hat, mich auf Ihrem Grundstück zu töten.«
»Ist es denn sicher, dass es sich um einen Mordversuch handelt? Es könnte auch ein Schuss gewesen sein, der sich versehentlich gelöst hat.«
»Ein Jäger, der sich abends auf ihren Parkplatz verlaufen hat?«, fragte Chib ironisch.
»Es hat schon unwahrscheinlichere Dinge gegeben!«, knurrte Andrieu.
Ja, vor allem bei ihnen, dachte Chib und wandte sich an die Jungen.
»Könnt ihr beide schießen?«
Andrieu runzelte die Stirn, während Charles sagte: »Das hängt davon ab, womit«, und Louis-Marie rief: »Wir gehen manchmal mit Papa auf die Jagd.«
»Was wollen Sie da unterstellen?«, protestierte Andrieu, der steif und mit hochrotem Kopf auf seinem Stuhl saß.
»Ich kann mir kaum vorstellen, wer - außer Charles und Louis-Marie - bei Ihnen mit einem Karabiner hätte hantieren und ihn, wie Sie sagen, falsch bedienen können«, erklärte Chib ruhig.
»Jedes Mal, wenn irgendwas passiert, beschuldigt er uns«, schimpfte Charles, »du bezahlst ihn wirklich für nichts.«
»Charles«, rief sein Vater, »bitte bleib höflich. Allerdings muss ich zugeben, Monsieur Moreno, dass mir Ihre Verdächtigungen ein wenig konstruiert erscheinen.«
Chib richtete sich etwas mehr auf. Er hatte in letzter Zeit immer weniger Lust, höflich und geduldig zu sein. Ja, die Familie Andrieu hatte seine natürlichen Reserven an verständnisvoller Sanftheit erschöpft.
»Hören Sie, bei Ihnen passieren wirklich seltsame Dinge, mein Lieber« - er betonte das >mein Lieber< - »und ich bin entschlossen
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