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Schneewittchens Tod

Schneewittchens Tod

Titel: Schneewittchens Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Aubert
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ist immer schwer zu ertragen.«
    »Ist sie entstellt?«
    »Nein, aber glauben Sie mir, es ist besser, wenn Sie zusammen sind.«
    Sie rang die Hände, ihre Lippen zitterten, sie drehte den Kopf zur Seite, atmete tief ein und wandte ihm das Gesicht wieder zu.
    Ihre Augen, so klar, regengrau, das Grau eines Horizonts ohne Hoffnung. Er nahm erstaunt zur Kenntnis, dass seine rechte Hand zu einer Bewegung ansetzte, um ihr über die Wange zu streichen, eine Geste, die er nur mit äußerster Anstrengung zurückhalten konnte. Die Augen auf den Sarg gerichtet, in dem ihr Kind ruhte, schien sie es nicht zu bemerken.
    Der Staub tanzte in einem goldenen Sonnenstrahl. Schweigen. Ihrer beider Atem beklommen. Plötzlich drehte sich Blanche Andrieu zu ihm um, ihre Augen funkelten, schienen vor Zorn zu lodern, und er glaubte, sie würde endlich ihre Wut und ihre Verzweiflung herauslassen.
    »Kann ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?«
    Völlig aus der Fassung gebracht, nickte er nur, und sie verließen die Kapelle.
    »Haben Sie schon gesehen, dass der Oleander blüht?«, fragte sie, als sie in den Weg zum Wintergarten einbogen.
    Er nickte. Kein Wunder, dass sie jede Nacht Albträume hatte, wenn sie ständig eine Rolle spielte. Sie hätte lieber in Weinkrämpfe ausbrechen, sich die Wangen zerkratzen, die Haare raufen, den Mond anheulen sollen wie eine trauernde Wölfin.
    Im Wintergarten roch es nach frischer Blumenerde und Pflanzenschutzmittel, sagte er sich, als er über die Schwelle trat. Dann hielt er inne. Alle Kinder waren da: Charles, Louis-Marie, Annabelle und Eunice. Sie saßen auf den kleinen japanischen Stühlen rund um einen der niedrigen grünen Tische und tranken offenbar Tee.
    »Sagt bonjour zu Monsieur Moreno, Kinder«, sagte Blanche und schritt auf die beiden Korbsessel unter dem Glasdach zu.
    Ein widerwilliges, gerauntes Bonjour war zu hören. Im Vorübergehen sah er, dass sie keinen Tee, sondern heiße Schokolade tranken und dazu Gebäck aßen. Sie machten beim Essen keinen Lärm, zankten und stritten sich nicht, stießen nur bisweilen ein kurzes Kichern aus. Eingeschüchtert? Dressiert wie Pudel?
    »Nehmen Sie Platz.«
    Als er sich setzte, glaubte er, vier feindselige Augenpaare im Nacken zu spüren.
    »Tee, Kaffee, oder würden Sie ein Stärkungsmittel vorziehen?«, sagte Blanche, und es klang, als würde sie aus einen Telefonbuch zitieren.
    Ein Stärkungsmittel! Mein Gott, schöpfte sie ihren Wortschatz aus den Schwarten der zwanziger Jahre, oder was?
    »Tee wäre sehr angenehm«, erwiderte er artig und versuchte, sich in dem schmalen harten Sessel zu entspannen.
    Aicha erschien und schob einen Teewagen vor sich her, mit einer Teekanne aus ockerfarbenem Porzellan und dazu passenden, winzigen Schalen. Grüner Tee also. Japanisches Dekor, japanischer Tee, aber französische Geilheit in Anbetracht der Anzahl der Kinder. Bravo, Chib, der hätte von Greg sein können!
    Er nahm einen Schluck von dem Tee, der natürlich kochend heiß war. Fast hätte er die extravagante kleine Schale fallen lassen, stellte sie auf die nicht weniger extravagante Untertasse. Aicha deckte den Tisch der Kinder ab. Er erkannte das Zirpen von Annabelles Gameboy wieder. Charles kritzelte in ein Heft, Louis-Marie hatte ein Buch aufgeschlagen, Harry Potter, und die kleine Eunice saß am Boden und unterhielt sich mit einem Plüschhasen, der eine rote Hose trug.
    Er widmete seine Aufmerksamkeit erneut der Frau ihm gegenüber, deren bleiches Profil sich vom Hintergrund abhob.
    Eine Schönheit, die zugleich so kalt, so klassisch und so zerbrechlich war . eine gefährliche Mischung, Chib, wie Feuer und Eis, sie bringt dein Gehirn und den Rest zum Schmelzen, du endest als kleiner nasser Haufen zu ihren Füßen, und sie stößt dich mit der Spitze ihres Glaspantoffels beiseite und seufzt: »Bah, entfernen Sie das bitte, Aicha.«
    Noch ein Schlückchen Tee. Wie er sich nach einem eiskalten Bier sehnte! Blanche trank, die Augen ins Leere gerichtet, an ihrem Hals eine pochende Vene, die den fast unwiderstehlichen Impuls bei ihm auslöste, den Finger darauf zu legen und zu sagen »Scht, alles wird wieder gut«. Aber nichts würde gut werden. Nein, überhaupt nichts. Elisabeth-Louise würde nicht wieder lebendig werden, genauso wenig wie der kleine Leon. Blanche würde ein neues Baby bekommen, würde immer mehr Beruhigungsmittel nehmen, heimlich zu trinken beginnen und in einer Entziehungsklinik enden, mager, das Haar zerzaust, aber immer noch so nobel, der

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