Schneewittchens Tod
all das muss geklärt werden, nicht wahr, Blanche?«
»Ja, natürlich. Entschuldige mich, ich will mich einen Moment hinlegen.«
Sie ging hinaus, ohne Chib eines Blickes zu würdigen. Andrieu setzte seine Tochter am Boden ab.
»Geh mit Eunice spielen, Liebes, Papa muss arbeiten. Und hör auf, Geschichten zu erfinden, das mag Papa gar nicht!«, rief er und drohte ihr tadelnd mit dem Zeigefinger.
Chib wartete, bis sie draußen war, und erkundigte sich dann, was es mit dem »Monster« auf sich hatte, das sie angeblich gestoßen hatte. Andrieu zuckte die Schultern.
»Sie hat mir gestanden, dass sie das erfunden hat, damit sie nicht ausgeschimpft wird. Gut, was ist Ihre Meinung?«
»Wozu?«
»Elilous Leiche verschwindet, ein Hund wird getötet und jetzt dieser Diebstahl . Ich sehe sehr wohl, dass es da eine Verbindung geben muss, ich bin schließlich nicht blind!«
Leider, dachte Chib und biss sich auf die Lippe, wenn du nur blind und gelähmt wärest, würde ich mich besser fühlen.
»Ich glaube wirklich, dass irgendjemand Ihnen Übles will«, sagte er laut. »Jemand, der Ihnen näher steht, als Sie denken.«
»Was wollen Sie damit andeuten?«
»Ich weiß nicht, ich habe gehört, John Osmond sei in Ihre Frau verliebt.«
»Na und? Ich sehe nicht, warum er deshalb auf die Idee kommen sollte, die Leiche meiner Tochter zu stehlen oder einem Hund den Bauch aufzuschlitzen, der noch dazu ihm selbst gehört! Und wer hat Ihnen überhaupt gesagt, dass er in Blanche verliebt ist?«
»Noemie Labarriere.«
»Diese Giftnatter! Immer spioniert sie allen nach. Ich kann verstehen, dass der arme Paul die Nase voll hatte!«
So sehr, dass er Clotilde Osmond vernascht hat. Und anscheinend wussten alle Bescheid. In den Hügeln lebte man wirklich wie in einem Schaufenster. Aber irgendjemand lügte, das stand fest. Jemand, der ständig eine Maske trug und dessen Herz von Hass und Wut brannte. Aber gegen wen und warum?
Gegen wen: ganz offensichtlich gegen die Andrieus.
Warum: Solange er das »Warum« nicht verstand, verstand er gar nichts, sagte sich Chib. Das »Wer« war nur eine Folge des »Warum«.
Nun lass mal deine Spitzfindigkeit, Chib, und konzentrier dich auf Andrieu. Du weißt, welches Pulverfass jeden Augenblick unter deiner Nase explodieren kann, wenn jemand die Lunte anzündet, zum Beispiel mit einer DVD.
Andrieu schien in trübsinnige Gedanken verloren, unter den Augen dunkle Schatten. Er hatte sich ein großes Glas Scotch eingeschenkt, den er in kleinen Schlucken trank, und fuhr sich dabei mit der Hand durch das gut geschnittene Haar. Er deutete mit dem Kinn auf die Flasche, aber Chib lehnte ab.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte er. »Ich rufe Sie morgen früh an.«
»Ich bin im Büro. Aber kommen Sie, wann Sie wollen, Sie haben freien Zutritt zu allem. Ach, hier ist die Codenummer für das Eingangstor, Sie brauchen nicht immer zu klingeln.«
Er reichte ihm einen Zettel, auf dem vier Zahlen notiert waren. Chib verabschiedete sich. Er fühlte sich unbehaglich. Als er am Fernsehzimmer vorbeiging, hörte er die scherzenden Stimmen der Jungen. Die Sorglosigkeit der Jugend. War er jemals sorglos gewesen? Ihm schien, dass er stets mit Zweifeln, Angst und Unsicherheit gelebt hatte.
Es war noch immer windig, aber es hatte aufgehört zu regnen. Die Luft roch nach Kälte und Feuchtigkeit, nach unter dem Humus vergrabenen Dingen, nach der Welt der Dunkelheit und der Nacht. Als er in seinen Wagen gestiegen war, blieb er, die Hände auf dem Steuer, eine Weile reglos sitzen und versuchte, Resümee zu ziehen. Alles ging zu schnell. Die Fakten häuften sich ohne sichtbaren Zusammenhang, ohne die geringste Antwort. Und die latente Bedrohung wurde präziser. Annabelle war in Gefahr. Was immer sie ihrem Vater erzählt haben mochte, Chib war davon überzeugt, dass sie jemand in den Brunnen gestoßen hatte. Und derjenige, der das getan hatte, würde auf andere Art wieder anfangen. Aber warum wollte er Annabelle töten? Dass dieses Kind wirklich grauenvoll war, reichte nicht als Grund, überlegte er scherzhaft. Aber warum dann? Wurde sie missbraucht? Das würde erklären, warum sie ihre Behauptung widerrufen hat. Weil sie Angst vor der Macht ihres Vergewaltigers hatte. Ein Perverser, der Angst hatte, entlarvt zu werden.
Und wenn es Cordier wäre? Wer war besser situiert, um an kleinen Mädchen rumzuspielen? Sozusagen unter den Augen und mit Wissen aller. Und wer könnte besser die Totenscheine ausstellen? Cordier! Aber ja, er gab
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