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Schneller als der Tod erlaubt. Ein Rettungssanitäter berichtet

Schneller als der Tod erlaubt. Ein Rettungssanitäter berichtet

Titel: Schneller als der Tod erlaubt. Ein Rettungssanitäter berichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lehmacher
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Rettungsdienst eher selten ist: Ich wäre gern auch darauf vorbereitet.
    »Mal sehen«, sagte Claudia, »wir haben noch einen Medizinstudenten und eine Hebammenschülerin auf der Station, und es kann immer nur einer dabei sein. Die Patientinnen müssen natürlich auch einverstanden sein. Und bei manchen unserer Patienten kann es sich bis zur Geburt noch tagelang hinziehen.«
    Am letzten Morgen meines Praktikums waren die Chancen, im Kreißsaal dabei zu sein, endgültig auf ein unwahrscheinliches Maß geschrumpft: Vier hochschwangere Patientinnen hatten in der Nacht entbunden. Nur drei Patientinnen standen jetzt noch vor der Geburt. Ich begleitete Claudia zu einer dieser Frauen, bei der die Herztöne des Kindes engmaschig untersucht werden mussten. Sie lag matt in ihrem Bett. »Meinem Baby geht es doch gut?«, fragte sie leise. Die fehlende Antwort von Claudia auf diese Frage hatte etwas Drückendes.
    »Die Herztöne … sind weg«, sagte sie stattdessen hektisch.
    Ein flaues Gefühl in der Magengrube.
    Die bevorstehende Geburt wurde von einer Sekunde auf die andere zu einem Notfall. Ein Notfall, der die ganze Aufmerksamkeit der diensthabenden Hebammen erforderte. Kurzerhand bat man mich, vorerst im Aufenthaltsraum zu warten.
    Ich versuchte, mir die Zeit mit einer Tageszeitung und einer Zeitschrift zu vertreiben, aber die Gedanken an die junge Frau, ihren ängstlichen Blick und das Kind holten mich immer wieder ein. Und ich hoffte irgendwie, dass die Herztöne vielleicht lediglich nicht mehr messbar, aber in Wirklichkeit doch noch vorhanden waren. Schließlich blätterte ich in einer Krankenhausbroschüre, in der Informationen zur Geburt eines Kindes und zu den ersten Lebensmonaten mit einem Säugling standen. Mein Blick blieb am Bild eines strahlendes Paars mit einem Säugling hängen, der rundum zufrieden und glücklich ausschaute. Ich dachte unwillkürlich auch an Renate und unsere Familienpläne. Hoffentlich blieben wir von einer so dramatischen Geburt verschont.
    »Georg?« Claudia gab mir ein Zeichen, dass ich wieder auf die Station kommen konnte. Sie sah erschöpft aus.
    Im Pausenraum, den sonst muntere Stimmen erfüllten, herrschte bedrückende Stille. Diese Stille wog schwerer als irgendwelche Worte … Das Kind war tot geboren worden.
    Ein Pfarrer war noch bei der Patientin im Kreißsaal.
    Unvorstellbar, dass sich der Tod selbst hier einschlich, wo das Leben doch seinen Anfang nehmen sollte.
    Nach dem Mittagessen ordnete ich Material auf einer Ablage. Claudia stand irgendwann hinter mir und bemerkte nebenbei: »Stell dir vor, du freust dich neun Monate lang auf das Kind, und dann musst du es beerdigen.«
    Aber kann man sich so etwas überhaupt vorstellen? Ein beklemmendes Gefühl: Ich schwieg.
    Kurz darauf erschien die Schichtführerin in der Tür.
    »Die auf der Vier wird wohl eine Sectio, das ist für unseren Sani eher uninteressant. Ich nehme den Medizinstudenten mit.«
    Enttäuschung mischte sich in die sowieso niedergeschlagene Stimmung.
    Wenig später kam wieder Leben in die Station, Stimmen waren in den Fluren zu hören, eilige Schritte hallten über die Korridore: Die nächste Geburt stand an, es ging weiter … Und dazu dann auch noch ein Anruf aus der Notaufnahme: ein Neuzugang.
    Eine junge türkische Frau wurde vom Rettungsdienst aus Friedberg hereingeschoben, gestresste Gesichter von Kollegen, nach der Übergabe etwas Entspannung, und dann ein erstaunter Blick in meine Richtung. »Was machst denn du hier?«
    »Praktikum«, gab ich kurz zur Antwort. »Letzter Tag. Ab morgen habt ihr mich wieder.«
    »Wehen im Abstand von zwei Minuten«, sagte Claudia und zeigte auf die Kreißsaaltür. »Gleich da rein.«
    Elena, eine der Hebammenschülerinnen, öffnete die Tür.
    »Ich kann aber nur einen von euch mitnehmen«, sagte Claudia.
    Ich schaute zu Elena hinüber.
    Sie zwinkerte mir lächelnd zu. »Geh du, wenn es dein letzter Tag ist. Ich bin noch länger hier und hab schon einige Geburten gesehen. Und – wir wollen ja nicht, dass du draußen mal eine Geburt begleiten musst und nicht weißt, was auf dich zukommt.«
    Ich konnte gerade noch »Danke« sagen, dann stand ich auch schon neben dem Ehemann der niederkommenden Frau im Kreißsaal.
    Als der Arzt keine Viertelstunde später dazukam, war die Geburt bereits in vollem Gang. Routiniert hatte Claudia der Patientin – die zwischen den Wehen in einem akzentfreien, wenngleich sehr schwäbischem Deutsch sprach – einen Zugang gelegt, leitete sie dazu an,

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