Schneller als der Tod erlaubt. Ein Rettungssanitäter berichtet
hört und der dich versteht und für dich sorgt.
Das Schlagen einer Kirchturmuhr in der Ferne reißt mich aus meinen Gedanken. Wenn ich nicht zu spät zum Dienst kommen will, muss ich jetzt schleunigst los. Ich greife nach meiner Jacke an der Garderobe. Augenblicklich erinnere ich mich, wie ich am Tag zuvor beim Verlassen der Klinik noch einmal in meiner Jackentasche nachgeschaut hatte, ob das Foto noch da ist, und es dann so in die Tasche zurückgeschoben habe, dass der Schlüsselbund das Bild nicht zerkratzt.
* * *
Zwei Stunden nach Dienstbeginn rücke ich zu meinem ersten Einsatz aus. Hardy, ein Kollege, mit dem ich bisher nur wenige Male Dienst hatte, fährt. Die Adresse allerdings kennen wir beide: ein häuslicher Streit, wie so oft.
Der Mann, etwa Mitte fünfzig, öffnet uns. Er ist betrunken. Durch den mit Bierkästen und Tüten vollgestellten Flur führt er uns zu seiner Frau, die auf dem Sofa im Wohnzimmer sitzt. Sie hält sich mit beiden Händen den zu Boden geneigten Kopf. Auch in diesem Raum herrscht solch eine Unordnung, dass man aufpassen muss, wo man hintritt.
Hardy fragt die Frau, wie es ihr geht.
Sie regt sich nicht, jammert nur.
»Was ist denn passiert?«, frage ich den Mann.
»Ach, die is’ doch nicht ganz richtig im Kopf«, lallt der. »Will mir das Bier verbieten.«
Nach und nach ergibt sich folgendes Bild: Der Mann und seine Frau haben wegen des Alkoholkonsums des Mannes Streit bekommen, der sich mit steigendem Alkoholpegel immer mehr hochgeschaukelt hat. Der Mann hat seine Frau mehrfach geschlagen.
»Am – am besten nehmen Sie die mit. Bei der stimmt’s nicht richtig.«
Die Fahne des Mannes riecht man noch auf zwei Meter Entfernung.
Inzwischen hat sich die Frau auf dem Sofa zurückgelehnt, sodass Hardy sie untersuchen kann. Er schiebt ihr mit übergestreiften Untersuchungshandschuhen die strähnigen Haare aus dem Gesicht, und eine zwei Zentimeter große Platzwunde oberhalb des linken Auges kommt zum Vorschein.
»Machen Sie doch bitte mal das Fenster auf«, sagt Hardy und wendet sich kurz um. Ihm steht der Schweiß auf der Stirn. Diese warme, stickige Luft in der Wohnung ist wirklich kaum auszuhalten. Ich mache die oberen Knöpfe meiner Jacke auf.
Der Mann mault etwas Unverständliches, kippt dann aber doch die Balkontür. Ein leichter Luftzug streicht durch das Zimmer.
Ich reiche Hardy etwas zur Erstversorgung der Wunde an.
»Besser, Sie kommen mit uns, und ein Arzt im Krankenhaus wirft mal einen Blick darauf«, sagt Hardy.
»Nee, ich fahr nicht mit.« Ängstlich schaut sie zu ihrem Mann hinüber, der sich in einen der beiden schmuddeligen Sessel hat fallen lassen.
Die Schreibmappe in der Hand schaue ich mich nach einer geeigneten Unterlage um. Auf dem Esstisch ist jedoch kein Millimeter Platz, allenfalls auf dem Couchtisch könnte ich meine Papiere hinlegen, aber dazu müsste ich mich in den anderen schmuddeligen Sessel setzen.
Als Hardy dem Mann erklärt, dass wir seine Frau ohne ihr Einverständnis nicht mitnehmen können, wird dieser aggressiv und fuchtelt mit der Faust herum. »Jetzt macht endlich eure Arbeit!«, brüllt er, springt von dem Sessel auf und wankt auf mich zu.
»Los, Hardy, komm«, sage ich und schließe den Notfallkoffer. Unser fluchtartiger Rückzug irritiert den Mann, erst mit Verzögerung fängt er wieder an zu fluchen.
Draußen auf der Straße fährt gerade ein Streifenwagen vor. Den hatten wir gar nicht bestellt: Offenbar kam der Notruf über die 110.
»Wir waren schon drinnen. Mitfahren will keiner. Vital bedroht ist auch niemand«, erklärt Hardy den Polizisten. »Wir warten noch kurz bei uns im Auto. Nicht, dass sich die Dame es noch anders überlegt, und es so aussieht, als würden wir sie nicht gern ins Krankenhaus bringen.«
Der Ältere der beiden Polizisten nickt, der Jüngere schaut genervt.
Nach mehrfachem Klingeln der Polizisten steht wieder der Mann in der Tür. Erstaunt blickt er die Beamten an. Ich wende mich ab, um ihn nicht unnötig zu reizen, stelle den Notfallkoffer in den Rettungswagen und setze mich zu Hardy ins Auto, der bereits der Leitstelle Bescheid gibt, dass wir vermutlich in Kürze wieder einsatzklar sind.
»Hardy«, sage ich, »kannst du dir vorstellen, dass diese beiden mal nette kleine Babys waren, über die man sich gefreut hat?«
Hardy zieht die Augenbrauen zusammen.
»Sonst alles okay mit dir?«
»Ja.«
»Sicher?«
»Doch.«
»Na gut, um es mal so zu sagen: Nein, ich kann es mir nicht wirklich vorstellen.
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