Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schneller als der Tod erlaubt. Ein Rettungssanitäter berichtet

Schneller als der Tod erlaubt. Ein Rettungssanitäter berichtet

Titel: Schneller als der Tod erlaubt. Ein Rettungssanitäter berichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lehmacher
Vom Netzwerk:
jüngere Polizist, der nun ebenfalls in die Wohnung hinaufgekommen ist, schiebt sich an mir vorbei und fragt: »Kann man schon sagen, wann der Tod wohl ungefähr …« Es klingt wie auswendig gelernt. Dann fällt auch sein Blick auf den Adventskranz, und er verstummt.
    Ich bin schon im Begriff, zum Wagen zu gehen, für Felix und mich gibt es hier nichts zu tun, aber dann fällt mein Blick noch auf diesen Vogelkäfig, der vor dem weihnachtlich geschmückten Fenster steht. Ich trete einen Schritt vor: Der Käfig ist leer. Der Wasserbehälter ebenfalls. Ich beuge mich ein wenig vor: Am Boden des Käfigs liegt etwas, das wie ein kleiner Haufen grünlicher Federn mit weißem Schimmel darauf aussieht.
    »Ich glaube, den Koffer brauchen wir nicht mehr. Ich gehe dann mal runter«, murmele ich mehr für mich, dann wende ich mich der Tür zu.
    An der halb liegenden Leiche auf dem Sofa versuche ich auch jetzt vorbeizusehen, aber es gelingt mir nicht ganz. Aus dem Augenwinkel nehme ich sie schemenhaft wahr.
    »Und?«, fragt mich die junge Frau aus der Nachbarwohnung, als ich in den Flur hinaustrete. »Nicht so gut, oder?«
    Ich nicke und zucke gleichzeitig mit den Schultern. »Wissen Sie, ich darf Ihnen nichts sagen. Na ja: Sie werden es dann ja sowieso mitbekommen.«
    »Ich kann es mir auch schon denken«, sagt sie leise.
    Am Rettungswagen angekommen stelle ich den Notfallkoffer in sein Fach, ziehe meine Schutzhandschuhe aus und stecke sie in den Müllbehälter im Wagen. Händewaschen ist mein nächster Gedanke. Waschen und desinfizieren. Ich steige ein, klappe dieses kleine Waschbecken unter der Arbeitsfläche im Patientenraum auf.
    Erst danach melde ich mich bei der Leitstelle: »Patient ex. Es wird noch ein paar Minuten dauern, dann sind wir wieder klar.«
    »Haben Sie schon einen Namen?«, fragt die Leitstelle.
    »Machen wir dann später über Draht«, funke ich zurück. Ich will die Einzelheiten lieber am Telefon durchgeben.
    Es klopft an mein Beifahrerfenster. Der Kollege von der Feuerwehr steht neben dem RTW .
    Als ich die Wagentür öffne, sagt er, dass er noch meinen Namen und den Namen meines Kollegen notieren müsse.
    Er schreibt sie auf.
    Dann sagt er: »Schon die zweite Wohnungsöffnung mit einem Ex hier im Viertel. In nur drei Wochen. Der andere lag auch schon eine Woche lang.«
    »Ach?«, sage ich. Ich will davon eigentlich nichts hören.
    »Ja«, sagt er. »Ein Fixer.«
    Was Felix da oben so lange macht? , denke ich, während der Feuerwehrmann weiterredet. Ich lasse meinen Blick an dem Haus hinaufwandern … Würde ich nicht wissen, dass es Weihnachtsschmuck an dem Fenster in der vierten Etage ist, ich hätte es von hier unten nicht erkannt.
    Der Feuerwehrmann verabschiedet sich.
    Ich schließe die Beifahrertür wieder und warte auf Felix … Immer wieder denke ich, wie traurig das ist, dass Menschen in einem Haus zusammenleben und sich nicht kennen, sich nicht umeinander kümmern. Sich nicht einmal frohe Weihnachten wünschen. Die Mauern zwischen ihren Wohnungen scheinen unüberwindbare Hindernisse zu sein. Was diese Menschen wohl empfinden, wenn sie erfahren, dass sie monatelang ihr Haus mit einer Leiche geteilt haben. Und wie einsam muss diese alte Frau doch gewesen sein, wenn niemand sie vermisst hat. Keine Menschenseele …
    Endlich kommt Felix. Er packt die restlichen Sachen an ihren Platz im Patientenraum, dann zieht er die Schutzhandschuhe aus und wäscht sich die Hände. Als er vorn in den Wagen einsteigt, meine ich wieder diesen Geruch von Verwesung in der Nase zu haben, obwohl es völliger Blödsinn ist.
    Auf dem Rückweg reden wir nicht viel. Ich sehe aus dem Fenster und betrachte die Menschen, die auf den Gehwegen unterwegs sind, und überlege mir, wie viele von ihnen hier inmitten hunderter anderer herumlaufen und doch einsam sind. Wie viele Menschen gibt es wohl, die keiner vermissen würde?
    »Ich hätte mir das Gesicht nicht ansehen sollen«, höre ich Felix unvermittelt sagen. »Sie hat …«
    »Schon gut, Felix, ich will es nicht wissen, okay?«
    »Ja«, sagt er. Und nach einer Weile: »Brauchst du was zum Mittagessen?« Er klingt fast fürsorglich.
    Ich schüttle den Kopf. »Keinen Hunger. Später vielleicht.«
    Zurück in der Wache stehen Felix und ich minutenlang nebeneinander am Waschbecken, waschen und desinfizieren uns noch einmal die Hände. Dieses unangenehme Gefühl, dass etwas von allem an einem haften bleibt …

Irgendwo in der Welt plötzlich allein
    P latzregen. In der Ferne

Weitere Kostenlose Bücher