Schneller als der Tod erlaubt. Ein Rettungssanitäter berichtet
wir den Vater dieses Mädchens aufgegeben, und jetzt trösten wir es mit einem Stoffteddybären. Ist das angemessen?
»Ich weiß es nicht«, höre ich Paul sagen, als ich zugestiegen bin. Das Mädchen schaut mich an.
»Er ist tot, stimmt es?«, fragt sie.
Ich nicke. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Wo ist er jetzt?«, fragt sie mich. »Ist er jetzt im Himmel?«
Ich kann nichts antworten.
»Wie heißt du?«, frage ich sie, als ich mich wieder gefasst habe.
»Sarah«, sagt sie. »Sarah Obermeier. Und du?«
Ich sage ihr meinen Namen, dann versuche ich, ihre Frage zu beantworten.
»Sarah …«, beginne ich einen Satz, suche selbst immer noch nach einer Antwort, aber Sarah füllt dann selbst diese Leere.
»Ich denke, er ist jetzt noch irgendwo hier. Aber auch ein bisschen im Himmel«, sagt sie.
»Dann wird es genauso sein.« Es ist mir, als ob ich meine eigene Stimme von außen hören würde.
»Ja«, sagt sie.
Ich überlege, wie alt das Mädchen wohl sein mag. Vielleicht sechs?
»Es ist meine Schuld«, flüstert die Kleine. »Es liegt alles nur an meiner Mütze. Es ist, weil meine Mütze runtergefallen ist. Papa hat noch einmal umgedreht und wollte sie holen. Und dann … dann kam dieses Auto.« Das Erstaunlichste ist die Ruhe, mit der das Mädchen redet, diese Ruhe, die mir fehlt.
»Nein, es ist nicht deine Schuld«, sage ich, aber mir fällt nicht ein, wie ich es ihr erklären kann.
»Aber hätte ich besser aufgepasst, dann wäre das nicht passiert«, sagt sie. Und dann laufen ihr doch die Tränen über die Wangen.
»Nein, Sarah«, sagt nun Paul. Gott sei Dank fallen ihm die passenden Worte ein. »Weißt du, du hast deine Mütze auf dem Gehweg verloren. So etwas kann passieren. Und – es ist ein Fußweg, Autos haben dort nichts verloren. Dein Vater ist, als er sich umgedreht hatte, auf dem Fußweg geblieben, und er hat sich dort gebückt. Das war in Ordnung. Es war nicht in Ordnung, dass das Auto von der Straße abgekommen ist und auf ihn zugefahren ist. Das hatte nichts mit deiner Mütze zu tun. Verstehst du?«
Sarah nickt. Sie scheint etwas zu überlegen.
»Was ist mit Mama? Muss sie noch hierbleiben?«
»Wahrscheinlich wird sie ins Krankenhaus gebracht werden, aber sie wird sicherlich bald wieder nach Hause dürfen«, sagt Paul. Dann schaut er zu mir herüber und meint: »Magst du vielleicht mal nach ihrer Mutter schauen und uns dann Bescheid geben?«
Sarahs Mutter liegt auf einer Trage, Maike hält ihre Hand. Die Mutter redet ununterbrochen. Sie erzählt etwas von dem überraschend schönen Wetter, dass sie eigentlich etwas ganz anderes vorgehabt hätten und nur wegen des Sonnenscheins wandern gegangen seien. Und immer wieder stammelt sie etwas von einer Einladung am Abend und dass es doch nicht sein könne, dass ihr Mann nun einfach tot sei, dass er doch ein Gartenhaus fertig bauen müsse, und dass sie gar nicht wisse, was sie den Freunden sagen solle, wenn sie nicht kämen. Noch verdrängt das schnelle Durcheinanderreden die Wirklichkeit, hört sich an wie der verzweifelte Versuch, mit dem Schicksal zu verhandeln … Richtig schlimm wird es erst werden, wenn die Worte verebben, wenn es still wird, wenn das Geschehene in Kopf und Herz angekommen ist.
»Frau Obermeier, Ihre Tochter Sarah ist bei uns im Auto«, unterbreche ich sie irgendwann. »Wenn Sie gleich in die Klinik gebracht werden, fahren wir erst mal hinterher. Haben Sie jemanden, der sich heute um Sarah kümmern kann?«
Frau Obermeier schaut mich einen Moment lang stumm an. Dann füllen sich ihre Augen mit Tränen. »Ja«, sagt sie. »Norberts Eltern. Sarah ist oft bei ihnen.«
»Haben Sie eine Telefonnummer von Ihrer Schwiegermutter?«
»Ich … ich weiß sie im Moment nicht.«
»Okay«, sage ich. »Wo wohnt sie denn?«
»In Mering. Sie heißt Maria Obermeier …«
»Wir werden die Telefonnummer herausfinden. Wir kümmern uns um Sarah«, sage ich.
Sie nickt. Wahrend Maike und ihr Kollege die Trage mit Frau Obermeier drehen, um sie in den Rettungswagen zu schieben, versuche ich, mich irgendwie seitlich so vor sie zu stellen, dass ihr die Sicht versperrt ist: Dort hinter mir sieht man dieses weiße Einmallaken, an den Ecken mit Steinen beschwert, darunter die Umrisse eines Menschen.
Ich rede kurz mit dem Haunstetter Notarzt, dann geben wir die Informationen einem der Polizisten, die inzwischen mit mehreren Fahrzeugen die Unfallstelle absperren und schon jetzt damit beginnen, die Spuren des grausigen Unfalls
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