Schnittstellen
Erholung. Die Sorge um die Kinder, zurzeit vor allem um Meike, der Gedanke an meine Großmutter im Altersheim, die immer nur auf den nächsten Besuch wartet, mein Vater, der sich regelmäßig beschwert, dass man zu selten an ihn denkt, all das tritt dann in den Hintergrund. Die Seele ruht aus. Eigentlich hatte ich immer gedacht, das Zuhause soll den Ort der Erholung bieten, wenn man von draußen kommt und in der Welt herumgefochten hat. Und ich muss mir eingestehen, dass es auch so war, bis wir Marvin zu uns nahmen. Seine Art, Konflikte körperlich auszutragen, bei geringsten Anlässen die Dinge um sich herum zu zerstören und wie am Spieß zu schreien, wenn er sich von einer Situation überfordert fühlte, hat Dimensionen in unseren Lebensraum getragen, die uns bis dahin unbekannt waren. Meike war erst vier Jahre alt, als der Sturm begann. Und wenn ich jetzt nach Hause komme, kann ich niemals absehen, in welcher Stimmung sie sein wird. Im Moment, glaube ich, hat sich die Situation etwas entspannt. Nach dem letzten großen Ausraster scheine ich sie von irgendwoher zurückgeholt zu haben. Sie wirkt wieder zielbewusster. Sie geht zuversichtlicher in die Schule, obwohl sie häufig Kopfweh hat, und trifft hin und wieder ihre besten Freundinnen. Nur ihren Plan, noch dünner werden zu wollen, behält sie bei. Wo soll das bloß enden? Ich weiß nicht genau, wie viele Kilos sie seit unserem Italienurlaub abgenommen hat. Aber die mädchenhaften Formen sind völlig verschwunden. Sie ist kreidebleich und ihre Vorliebe für schwarze Kleidung unterstreicht die Blässe. Meikes Hände fühlen sich immer kalt an. Ich versuche, das heikle Thema Ernährung anzusprechen.
»Ich weiß, dass du Schlanksein schön findest, aber meinst du nicht, es reicht jetzt?«
»Du hast doch keine Ahnung, Mama, ich bin nicht schlank, ich bin fett. Guck dir meine Oberarme an und meinen Bauch!«
Ich kann kein Gramm zu viel an Meikes Körper entdecken. Aber noch mehr als die Bedeutung der Worte verunsichert mich der aggressive Nachdruck, mit dem Meike den Satz ausspricht. Es ist, als würde mich ein eiskalter Wind berühren.
»Aber es ist doch nicht schön, wenn man nur aus Haut und Knochen besteht, und gesund ist es auch nicht, wer weiß, woher deine Kopfschmerzen kommen«, wende ich ein. Ich will nicht zaghaft klingen, obwohl ich mich so fühle. Meike will gar nicht wissen, was ich denke, trotzdem vertrete ich meine Meinung mit fester Stimme.
»Mama, lass mich in Ruhe!«, schreit Meike. »Ich bin nicht dünn! Hast du schon mal dünne Leute gesehen! Du wolltest immer dicke Kinder haben. Guck dir doch meine Bilder von früher an … ich war ein fettes Kind!«
Obwohl ich eine ähnliche Reaktion erwartet habe, verschlägt es mir die Sprache. Ich habe Mühe, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Jonas, Anna und Meike waren rundliche Babys und Kleinkinder, sie hatten Babyspeck, ich selbst war ein wohlgenährtes Kleinkind, und wir alle sind schlanke Erwachsene.
»Du warst kein fettes Kind, du warst ein gesundes Kind. Von der U 1 bis zur U 6 war unsere Kinderärztin begeistert von dir! Sowohl von deiner körperlichen Verfassung als auch von deinen motorischen und geistigen Leistungen! Du warst in deiner Entwicklung immer einen Schritt weiter als der Durchschnitt.«
»Tja, die Zeiten sind wohl vorbei«, antwortet Meike spöttisch. »Jetzt falle ich deutlich zurück! Siehst du ja schon an meinen Schulnoten.« Sie dreht mir den Rücken zu und geht zur Tür. »Und ich bin nicht dünn, du hast ja keine Ahnung!« Mit dieser Bemerkung verlässt sie die Küche und zieht sich auf ihr Zimmer zurück.
Meike
Meine Mutter nervt mich. Sie soll mich mit ihrem »Iss mehr, du bist zu dünn«-Gelaber in Frieden lassen. Ich werde ja wohl gerade noch wissen, ob ich zu dick bin oder nicht. Und ich glaube ihr nicht, dass sie mich wirklich dünn findet, sie sagt es nur, damit ich fett bleibe. Warum sie will, dass ich dick bin, weiß ich nicht, ist mir auch gleichgültig. Selbst wenn ich den Grund kennen würde, würde es wahrscheinlich nichts an der Situation ändern. Ich versuche, meiner Mutter immer wieder klarzumachen, dass ich eben weniger Fett haben darf als die ganzen kleinen, zierlichen Mädchen, denen es von Natur aus gegönnt ist, schmal zu sein, weil ich einen zu breiten, schweren Knochenbau habe. Während andere ein paar Zentimeter Fett haben und damit schlank und gesund erscheinen, sehe ich mit diesen paar Zentimetern fett aus. Aus dem Grund muss man bei
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