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Schnittstellen

Schnittstellen

Titel: Schnittstellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Abens
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mir die Knochen erkennen können. Ich leugne auch gar nicht, dass ich nur noch Haut und Knochen sein will, sie versteht nur nicht, warum das bei mir so sein MUSS . Ich habe nun einmal eine unmögliche Figur für ein Mädchen, und ich muss das Möglichste tun, um mit meinem breiten Kreuz nicht wie ein Mann auszusehen. Das habe ich natürlich auch meinen Eltern zu verdanken, hätte meine Mutter sich nicht denken können, dass bei ihrer Statur und der meines Vaters, wenn das Kind ein Mädchen wird, das arme Ding eine breite Schlägerfigur hat? Mich kotzt das an. Abgesehen davon, glaube ich meiner Mutter sowieso nichts, was Dünnsein und Dicksein angeht. Sie hat früher bei meiner Schwester die gleiche Show abgezogen. Anna war mit sechzehn moppelig, aber meine Mutter hat ihr immer gesagt, sie sei schlank und überhaupt nicht dick. Ich habe meiner Schwester natürlich auch gesagt, dass sie nicht dick sei, dass sie doch super aussehe, was hätte ich auch sonst sagen sollen. Damals habe ich nicht darüber nachgedacht, dass es nichts bringt, einem Menschen die Wahrheit vorzuenthalten, nur um ihn zu schonen. Ich weiß es jetzt besser und es tut mir leid, dass ich meiner Schwester nie mit der Wahrheit geholfen habe. Mir würde es doch auch viel leichter fallen, wenn meine Mutter mich unterstützen würde, was mein Essverhalten angeht. Wobei ich im Grunde gar nicht will, dass sie sich einmischt. Es wäre schon genug Unterstützung, wenn sie mich nicht immer auf dieses Thema ansprechen würde. Sie soll mich sein lassen, wie ich mich haben möchte, begreift sie das denn nicht? Sie hat mich geboren, ohne dass ich es gewollt hätte, ich lebe doch nur, weil meine Eltern irgendwann beschlossen haben, ein weiteres Kind in die Welt zu setzen. Da sie sich also schon diesen riesigen Verstoß gegen meine Entscheidungsfreiheit erlaubt haben, können sie mich wenigstens selbst über meinen Körper urteilen und entscheiden lassen.
    Ich hasse meinen Körper. Alles daran ist falsch. Ich hätte besser ein Junge werden sollen, dann wäre es stimmiger. Aber abgesehen von meinem Körperbau, an dem ich zugegebenermaßen nichts ändern kann, bin ich noch viel zu fett! Da ist viel zu viel Schwabbelwabbelfett. Vor allem an meinen Oberarmen, die sind fetter als mein Hals. Das ist so widerlich. Genau wie mein Bauch, wie eine runde, riesige Kugel, die umherschwappt. Am liebsten würde ich mir das Fleisch aus meinen Armen und meinem Bauch schneiden. Es widert mich an. Wenn ich daran denke, muss ich weinen. Ich finde mich so ekelhaft und bin dazu verdammt, mit mir zusammen zu sein, mit diesem widerlichen rosafarbenen, fleischigen Berg, mit diesem hässlichen Körper, der irgendwie unter die Menschen geraten ist. Ich schäme mich für mich. Damit das aufhört, muss ich eben weniger essen. Dann ist wenigstens das Fett weg! Was den Rest betrifft, mal sehen …
    Wieso sagen alle immer: »Oh, aber Bulimie und Magersucht sind ganz gefährlich, irgendwann bleibt sogar die Regel aus!« Erst werden Haarausfall und irgendwelche anderen äußerlichen Erscheinungen vorausgesagt und dann kommt schließlich als vermeintlich krönender Abschluss: »Und die Tage können ausbleiben!« Hallo? Will ich meine Menstruation denn haben? Oh, Schreck! Oh, nein! Ich werde es ja so vermissen, da unten heraus zu bluten. Das ist so lächerlich! Ich will meine Kacktage doch gar nicht haben. Es interessiert mich null, wenn die wegbleiben. Ich habe schließlich gar nicht vor, Kinder zu bekommen. Mir käme gelegen, keine Periode mehr zu haben, dann hätte ich das Gefühl, ein Ziel erreicht zu haben. Außerdem würde ich mich mehr wie ein Junge fühlen. Ich wäre lieber ein Junge.
    Anja
    Heute ist mein fünfzigster Geburtstag. Eigentlich war ich nie dafür, zu feiern, wenn einem nicht danach ist. Früher, wenn bei uns der Haussegen schief hing, Weihnachten zu feiern, das war grauenhaft, einerseits. Anderseits schienen der Baum, die Kirche, die Lieder ein Tuch über die Schwierigkeiten des Alltags zu legen, so wie Schnee einen Garten voller Gerümpel zu einem Wintermärchen macht. Es kann also auch guttun. Nur wenn die Puste fehlt, ist Feiern anstrengend. Aber meine Familie und die besten Freunde, das ist eine schöne Aussicht. Mit ihnen fühle ich mich wohl. Nur Meike fühlt sich nicht wohl, das weiß ich. Bei den Vorbereitungen ist sie noch gelassen, aber als die ersten Gäste kommen, versteift sie zusehends. Zum Feiern gehört das Essen. Und Essen ist Meikes Feind. Immer wieder nimmt sie

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