Schock
zu begreifen, daß sie sich in einer Kirchenvorhalle befand; sie legte die Hand vor den Mund, als hätte der harmlose Fluch gehört werden können. Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, die Hand vor dem Mund, stand sie da und wartete auf einen Blitzschlag vom Himmel. Als er nicht kam, zuckte sie die Achseln und sagte: »Können wir nicht hineingehen? Ich erfriere hier an der Tür.«
Sie verließen die Vorhalle und traten ins Innere der Kirche. »Oh«, flüsterte sie, »ich bin nass bis auf die Haut«, und er flüsterte: »Ich auch«, und dann waren sie still, weil über ihnen Musik aufschwoll, Musik, die wie das plötzliche Unwetter aus dem Nichts hervorzubrechen schien, als berühre eine weise, mächtige, alles wissende, alles sehende Gottheit die Welt, zusammenhanglos wie in vorgöttlicher Zeit und dennoch sich selbst gemäß. Die Musik kam hoch oben von der Orgelempore, und Buddwing erkannte eine Fuge von Bach; im gleichen Moment flüsterte Grace »Bach«, und er nickte. Offenbar waren zwei Männer auf der Orgelempore, die sie beide nicht sehen konnten; einer spielte die Orgel mit majestätischer Wucht, der andere die Geige – eine klangreiche und irgendwie heidnische Gegenstimme. Die Musik durchbrauste den Raum und widerhallte in der Kirche, voll Wiederholungen, irgendwie endlos, Bachs mathematische Symmetrien brachen sich an den schweren Steinmauern des Mittelschiffs, stiegen zum Gewölbe empor, stürzten wie der prasselnde Regen draußen zum Altar nieder, der im Licht geweihter Kerzen düster glühte. Sie tasteten sich durch den Mittelgang, um einen Blick auf die Musiker zu werfen. In ihrem Versteck spielten die Männer mit einem Eifer, der an Raserei grenzte. Der Orgelklang hallte vibrierend, die Geige gab das Thema eine Quinte höher zurück, der volle Klang flutete durch das Mittelschiff über die Vierung in das nördliche und südliche Querschiff; dann dröhnte die Antwort der Orgel auf, die Geige fiel diesmal eine Oktave tiefer ein; bis über den Altar hinaus, bis in die Apsis gab es nur Musik, die jeden steinernen Winkel der Kirche füllte. Feuerzungen schlugen aus Scheiterhaufen, leckten an den Gewändern gefesselter Märtyrer, Schacher und Propheten hingen am Kreuz, die Musik loderte in gebändigter Hingabe, Heiden umtanzten den Holzstoß, ihre Körper glühten von Schweiß und Schminke.
Sie hatten das Mittelschiff bis zur Vierung durchquert, gingen dann weiter fast bis zum Altar; noch immer konnten sie die Musiker nicht sehen. Am Westende der Kirche, durch die Vorhalle und das gewölbte offene Portal sichtbar, erleuchtete ein Blitz die graue, nasse Straße. Ein alter Mann, eine Zeitung wie ein Zelt über dem Kopf, rannte vorbei. Die geweihten Kerzen tanzten in roten und grünen Glasbechern, das Echo des Donners fing sich unter dem gewölbten Baldachin, die Orgel antwortete ihm mit dröhnendem Nachhall, Geigenklang stieg in einer schneidenden Spirale hernieder, die Schlußtakte der Fuge hingen wie sanft fallender Staub in der Luft, ein letztes Echo, und dann war es still in dem riesigen steinernen Kirchenraum.
Die Stille kam nicht weniger plötzlich als zuvor der Regen und der Orgelklang. Noch schien die Musik in ihnen nachzuzittern, auf ihrer Haut zu vibrieren, doch wie ein vor Jahrhunderten erloschener Stern, dessen Licht noch auf Erden sichtbar ist, war die Quelle des Klangs erstorben; was in Wahrheit noch widerhallte, war das leere Dröhnen der Stille. Und in diese Stille hinein flüsterten die Musiker miteinander, noch immer unsichtbar, doch ihre Stimmen wurden über die ganze Länge der Kirche getragen.
Buddwing und das Mädchen standen, den Rücken zum Altar, wortlos in der flüsternden Wölbung.
Ihr Hand suchte die seine.
Ihre Finger schlossen sich umeinander.
Das also, dachte er, ist der Vollzug.
Das also ist der Vollzug auf schmalem Ehebett, der erste Vollzug und der letzte, Fuge in sich selbst, Thema und Antwort überschneiden einander, ein endloses Hintereinander, die Stimmen in strenger Reihenfolge erklingend, eine Jagd, eine Flucht, lateinisch fuga. Das verheißene Muttermal an der linken Schulter hatte sie nicht, doch das war unwichtig, tat nichts zur Sache – er wußte, in diesem Bett und in den Betten, die folgen würden, würde er erfahren, wer diese Frau war.
Die Wohnung roch nach frischer Farbe – war es erst einen Monat her, daß er sie gestrichen hatte, während sie mit den Schneiderinnen endlos über ihr Brautkleid konferierte? Die Möbel waren neu, makellos, sie
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