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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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war sicher, jeden Moment mußte sie davonfliegen. Täte sie es, so würde es ihn nicht überraschen; mit dem verdammten Wagen passiert etwas, sooft er ihn von seinem Vater auslieh, Reifenpannen, Motorschäden, durchgebrannte Kabel, Versagen der Hupe – irgend etwas war immer los. »Das verstehe ich nicht«, sagte sein Vater jedes Mal, »bei mir ist immer alles in Ordnung.«
    »Wie sehr liebst du mich?« fragte Grace.
    »Wetten, daß uns gleich die Kühlerhaube wegfliegt?« sagte er.
    »Oder liebst du mich überhaupt?«
    »Ich liebe dich, Grace.«
    »Und wie sehr?«
    Die Frage war kindlich und dumm. Sie war jetzt neunzehn, ihre Brust preßte sich gegen seine Hand am Steuerrad; sie hatte die Beine unter sich auf den Sitz gezogen, mit hochgerutschtem Rock, und sie fühlte sich warm an und zum Bersten reif im verschwiegenen, dunstigen Gehäuse des Wagens – sie wollte nur wissen, wie sehr er sie liebte.
    »Ich liebe dich mehr als alles andere«, flüsterte er.
    »Ja, aber was heißt das«, sagte sie. »Das kann doch alles mögliche heißen.«
    »Es heißt, daß ich dich liebe«, sagte er.
    Sie musterte ihn schweigend. Sie starrte ihn an, sagte kein Wort, und plötzlich verschwand der kindliche Ausdruck aus ihrem Gesicht, verdrängt von unsicherer, gänzlich erwachsener Verwirrung.
    »Warum …« fing sie an und zögerte dann. »Warum liebst du mich eigentlich?« fragte sie.
    Einen Augenblick lang schwieg er, und dann war es zu spät, die Frage zu beantworten.
    »Ich meine«, sagte sie, »warum gerade mich? Bitte sag mir – warum mich?«
    Der Klang ihrer Stimme brachte ihn fast zum Weinen. Er vernahm die tiefe Traurigkeit in dieser Stimme, als flatterten tausend Puppenkleider und Springseile, Zöpfe und Röckchen, Baumwollhöschen und blaue Plastikspangen im Wind, seufzend in zerbrochenem Wirrwarr. Er vernahm in dieser Stimme das Geheimnis fremder, seelenloser Dinge, Lippenstift und Wimperntusche, Hüftgürtel und Büstenhalter, Haken und Ösen, Pessare. Er vernahm (einst hörte ich die Meerjungfrauen singen) dahinter ein Echo jenes kindlich verlorenen, seufzenden Klanges, den der Wind mit sich trägt, hoch, klar und scharf, die Unsicherheit rückhaltlosen Selbstvergessens, die plötzliche Unsicherheit letzter, vertrauensvoller Hingabe, den leisen Riß der Schmetterlingspuppe, und er preßte sie wild und froh an sich – aus Furcht, daß ihr Schwingen zu Staub zerfielen. Beide zitterten. Er küßte ihr Haar, ihre geschlossenen Augen, er seufzte: denn im dunstigen Innern der klappernden Droschke im Central Park, in ihrer allzu intimen Abgeschlossenheit – vorhin hatte sie noch gesagt, sie würde sich nicht mit ihm einlassen – hatte auch sie sich plötzlich und ungewarnt in ihn verliebt.
    »Ich liebe dich, Grace«, sagte er. »O Gott, wie sehr ich dich liebe!«
    Sie drängte sich tiefer in seinen Arm, lächelte, seufzte, und ihre Kinderstimme sagte an seiner Brust: »Ich liebe dich auch.«
    In diesem Sommer, in dem sie ihm im Wüstensand hinter dem Tal von Sorek die Haare schnitt, nachdem er für sie einen jungen Löwen erlegt, dreihundert Füchse gefangen und tausend Männer mit einer Eselskinnlade erschlagen hatte, verlor er sein Herz gänzlich an sie.
    Es war an einem jener dunstgefilterten Tage, an denen die Sonne, in gleichförmiger, ungemilderter Helle von Horizont zu Horizont reichend, den ganzen Himmel einzunehmen scheint, so unbestimmbar in ihren Absichten, als könne sie mit gleicher Leichtigkeit strahlenden Sonnenschein oder Regen hervorbringen. Sie waren mit dem Wagen seines Vaters unterwegs, schon hinter Jones Beach, hatten bisher nur einmal anhalten müssen, weil der Kühler überkochte (»Ich verstehe das nicht«, sagte Grace, »bei mir ist immer alles in Ordnung«), und parkten den Wagen schließlich auf einem Sandstreifen gegenüber Gilgo. An diesem Tag war das Meer ruhig; es reflektierte den opalisierenden Himmel in silberner Fülle. Der Strand war fast menschenleer. Kein Wind; kaum, daß der Sand sich regte. Sie trug einen zweiteiligen Badeanzug, die Träger des Oberteils gelockert; auf den Hügeln ihrer Brüste erschien ein weißer Streifen, wo die Sonnenbräune abrupt endete; das Muttermal auf ihrer linken Schulter verschwand nahezu im Bronzeton ihrer Haut. Sie trug eine Sonnenbrille, las die Sunday Times, kommentierte jede politische Situation, die sie im Nachrichtenteil fand, las ihm eine Buchbesprechung vor; ihre Hand ruhte auf seinem Kopf, die Finger spielten mit seinem Haar. »Du hast

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