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Schock

Titel: Schock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter Evan
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griff nach der New York Times. Doch dann blieb sein Blick an der riesigen, schreienden Schlagzeile auf der Vorderseite des obenauf liegenden Boulevardblattes hängen. Und im gleichen Moment wußte er: das war der Schock, auf den er gewartet hatte, seit er Glorias Wohnung verließ; nicht Doris, die plötzlich aufgetaucht war, überraschend wie ein großer, schwarzbeiniger Vogel – nein, dies, das ihn vom Zeitungsständer anstarrte, schreiend, brüllend, dies.
    Fast hätte er vor dem Zeitungsständer die Flucht ergriffen. Das bin ich nicht, dachte er hastig. Dann griff er mit zitternder Hand nach der Zeitung, nahm sie mit in die Milchbar und legte sie vor sich auf die Theke, ohne die Schlagzeile ein zweites Mal anzusehen. »Eine Tasse Kaffee mit Milch und einem Stück Zucker, bitte«, sagte er zu dem Mann hinter der Theke, ohne dabei zu bemerken, daß ihm eingefallen war, wie er seinen Kaffee bisher zu trinken pflegte. Während der nächsten Minuten vergaß er Doris fast völlig. Er saß auf dem Hocker am Ende der Theke, so daß er durch die offene Tür die Straße und das Haus gegenüber beobachten konnte. Doch er warf nicht ein einziges Mal einen Blick durch die Tür. Er starrte nur auf die schwarze Schlagzeile der Zeitung, las sie schließlich, las sie immer und immer wieder, sah die kleinere Zeile, die ihm sagte, daß der dazugehörige Artikel auf Seite drei stand; doch die Angst, dort ein Bild zu finden, auf dem er sich selber wieder erkennen würde, hemmte ihn, die Zeitung aufzuschlagen. Denn dann würde er es genau wissen, dann wäre die Schlagzeile klar, ihre unheildrohenden schwarzen Lettern würden ins Riesenhafte wachsen, bis sie Stadt, Welt und Universum auslöschten.
    Der Mann hinter der Theke stellte die Kaffeetasse vor ihm nieder und sagte: »Nehmen Sie die Zeitung, Mister?«
    »Ja«, sagte Buddwing.
    »Dann setze ich sie mit auf die Rechnung.«
    »Tun Sie das«, sagte Buddwing, und der Mann wandte sich ab, als hätte er einen bedeutenden Sieg errungen.
    Durch die schreiende Schlagzeile auf der Vorderseite erfuhr Buddwing, daß in der letzten Nacht ein Geistesgestörter aus einer Anstalt auf Long Island ausgebrochen war. In der Schlagzeile waren die Worte ›Long Island‹ nicht ausgeschrieben, sondern mit den Buchstaben L.I. abgekürzt. Buddwing wußte zwar, daß es damit durchaus seine Richtigkeit hatte; dennoch kam es ihm merkwürdig vor, daß die Zeitung in so großer Aufmachung vom Ausbruch eines Irren berichtete, sich aber einer so geläufigen Abkürzung wie L.I. bediente. Er mußte plötzlich an die Frau denken, die nach Oyster Bay gefahren war und dem Taxifahrer ein Trinkgeld von fünfundzwanzig Cents gegeben hatte. Er fragte sich, wie es wohl im Ausschnitt ihres Cocktailkleides ausgesehen haben mochte; dann schlug er Seite drei auf.
    Es gab kein Bild auf Seite drei. Er wunderte sich darüber. War es nicht üblich, Irre zu fotografieren, mußten nicht gerade geschlossene Anstalten, wie Gefängnisse, von jedem, der ihre Tore durchschritt, ein Foto anfertigen lassen? Der Artikel berichtete, daß ein Mann namens Edward Vossler in der vergangenen Nacht aus dem Central Islip State Hospital entwichen war, kurz nach dem Abendessen. Vossler – und in einem Anfall von Panik erinnerte er sich der Initialen in dem Ring an seiner Rechten, G.V. – hatte offenbar den Eßsaal verlassen, war dann in das leere Büro des Direktors gegangen und hatte aus dem Schrank des Anstaltsleiters ein Hemd, eine Krawatte und einen Anzug entwendet. Eine Angabe über die Farbe des Anzugs enthielt der Artikel nicht; aber in seiner Sicherheit, daß er selbst dieser Vossler war, wußte Buddwing, daß es ein blauer Anzug gewesen sein mußte. Vossler, berichtete der Artikel, war achtunddreißig Jahre alt, ungefähr einsachtzig groß und außerordentlich gefährlich – ein schizophrener Paranoiker mit schwerem Verfolgungskomplex und Größenwahn. Im weiteren befasste sich der Artikel mit halbmedizinischen Erläuterungen über Schizophrenie und Paranoia und damit, was ein Mensch mit Verfolgungskomplex und Größenwahn zu tun fähig wäre; er schloß mit der Telefonnummer, die angerufen werden sollte, falls Vossler einem der Leser über den Weg lief.
    Buddwing las den Artikel dreimal.
    Die Inschrift in seinem Ring lautete ›Von G.V.‹; wieder fragte er sich, wer G.V. sein mochte, doch diesmal hatte die Frage einen Beiklang von Entsetzen. Möglicherweise war G.V. die Frau oder Mutter dieses Mannes Vossler, der er zweifelsohne

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