Schock
ich kein Geld bei mir habe.«
»Haben Sie – haben Sie schon zu Abend gegessen?«
»Nein.«
Sie musterten einander schweigend. Mehr würde sie nicht sagen, er spürte es. Er beobachtete sie, wartete, ob sie noch etwas sagen würde, wußte, daß sie nichts sagen würde. Ich kenne dich zu gut, dachte er. Ich kenne jeden verdammten Winkel deines Hirns.
»Wollen Sie mit mir essen?« fragte er.
»Aber Sie haben kein Geld«, sagte sie. Ihre Stimme klang jetzt sehr sanft, fast schüchtern. Sie lächelte schüchtern und sah wartend zu ihm herauf.
»Das stimmt, ich habe kein Geld«, sagte er.
»Dann meinen Sie also, daß ich Ihnen das Abendessen zahlen soll?«
»Nun, so hatte ich es eigentlich nicht gemeint. Ich dachte nur, es könnte nett sein, miteinander zu essen.«
»Ist das nicht ein wenig unverfroren?« fragte sie. Ihr Verhalten bekam auf einmal einen Anflug von Koketterie, der ihre Schüchternheit verdrängte – vielleicht auch nur fortsetzte.
»Meinen Sie?« fragte er.
»Doch«, sagte sie. »Ausgesprochen unverfroren.«
In Wirklichkeit war vom Abendessen überhaupt nicht die Rede. Plötzlich fiel ihm ein, daß er einmal mit Jesse an Bord der Fancher nachts lange diskutiert hatte; doch er verdrängte die Erinnerung. Sie stand an einem Laternenpfahl, und er trat nahe zu ihr.
»Ich bin tatsächlich hungrig«, sagte er.
»Ich auch.«
»Wo möchten Sie essen?«
»Ist das etwa schon abgemacht? Ich wüsste nicht.«
»Es ist abgemacht«, sagte er.
Sie starrte ihn lange schweigend an; dann sagte sie: »Ja, ich glaube, das ist es.«
13
Während dieser Zeit gegenseitigen Umwerbens – und auch ein Umwerben war es für ihn, einerlei, von welch kurzer Dauer – hatte Buddwing das Gefühl, mehr und mehr zu einer starken inneren Wirklichkeit zu kommen, die nicht minder klar umrissen war als die äußere Wirklichkeit, in der er und das Mädchen sich bewegten; unerbittlich einer Entscheidung zugetrieben zu werden, von der er wußte: sie galt nicht mehr, wenn sie einmal getroffen war.
Dieser seltsame logische Zwiespalt verwirrte ihn. Er wußte: dieses Mädchen, dessen Hand er hielt, war Grace. Sein Leben würde unauflöslich an das ihre gebunden sein; trotzdem spürte er eine seltsame Zwecklosigkeit in diesem gegenseitigen ersten Kennenlernen. Ihm war, als könne dieses Kennenlernen nur auf Vorläufigkeiten hinauslaufen. Doch wie konnte man an einem Sinn zweifeln, wenn alles, was sie zusammen taten, das Nächste mit schwereloser Natürlichkeit vorzubereiten schien, im Nächsten wieder eine Vorbereitung für das Folgende lag, all ihre Handlungen auf die einzig mögliche Folgerung, die unabwendbare Folgerung abzielten? Und doch war ihm, als müsse er sich am Ende – wie kam er dazu, an ein Ende denken, weshalb erlaubte er seinem Hirn, ein Ende in Erwägung zu ziehen, da dies doch erst der Anfang war? – genau dort wieder finden, wo er schon immer gestanden hatte.
Ihm war, als trüge dieses Mädchen einen spürbaren Widerhall von Doris in sich; manchmal erinnerten ihn ihre Bewegungen an sie, manchmal sogar ihre Stimme; nun gut, zum Teufel, mochte doch etwas von Doris in ihr stecken! Gewiß, wenn er so dachte, kam er notwendig zu dem Schluß, daß jede Frau in seinem Leben nur ein simples Echo ihrer Vorgängerin darstellte. Grace war ein Echo von Doris, Doris war ein Echo seiner verdammten Cousine Mandy mit den dicken Beinen, und Mandy war ein Echo der ersten Frau, die er je gekannt hatte, seiner Mutter. Schön, wenn man sich auf diesen ganzen Freud'schen Unsinn einlassen wollte, gut denn, dann war Grace eben das dritte Echo seiner Mutter, okay? Eine schlichte Verfeinerung der groben und manchmal unfeinen Frau, die seine Mutter gewesen war, okay? Das gleiche blonde Haar, mehr oder minder die gleiche Größe – er konnte sich Grace nur groß vorstellen, fast so groß, wie seine Mutter gewesen war –, die gleiche direkte Art zu sprechen, die gleiche Neigung zu blitzschnellem Argwohn, die gleichen vollen Brüste; okay, dann verliebe ich mich eben in meine eigene Mutter, okay? Doch halt, Moment, nur keine vorschnellen Folgerungen! Du spürst also eine gewisse Zuneigung zu diesem Mädchen, schön, du gingst nicht ungern mit ihr ins Bett, schön, sie sieht deiner lieben herrischen Mutter ein wenig ähnlich, das gleiche blonde Haar … Aber betrachten wir die Sache doch vorerst einmal von allen Seiten, nicht wahr? Wenn wir schon das verschlungene Labyrinth dieses Seelenlebens durchstöbern, so wäre doch
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