Schock
zumindest die Möglichkeit zu erwägen, daß diese hübsche junge Sozialfürsorgerin dich nicht nur an sie selbst erinnert, an die Person, die sie aller Wahrscheinlichkeit nach ist, Grace, kein Zweifel, sie ist es und ist es nicht; nicht nur an deine liebe verstorbene beklagenswerte Mutter, mundlos, blaue Pomponpantoffeln an den Füßen, nicht nur an Mandy mit den dicken Beinen, deine ältere Cousine voller Sex und Lebenskraft, richtig, nicht nur an dieses Sortiment verschiedener Frauen – erinnert sie dich nicht außerdem an ein anderes süßes Engelsgesicht, an das Gesicht, des Cherubs auf dem Dach des Mailänder Doms, das Gesicht, das Beethoven gehörte, den man im Unterwasserverhau vor Tarawa mit Maschinengewehren zusammenschoss? Verfolgen wir alle diese getrennten und sich doch irgendwie berührenden Pfade, wo liegt dann das Ziel? Endlose Wiederholung und Ziellosigkeit, das wird das Ziel sein: die Erkenntnis, daß du nicht du selbst bist, sondern nur ein Bündel neurotischer Reaktionen auf jede zufällige Begegnung.
Und wieder entsann er sich des Gesprächs, das er eines Nachts mit Jesse an Bord der Fancher führte, kurz nachdem auf der Fahrt nach Japan der Hurrikan über sie hereingebrochen war. Sie versuchten, einem Schiffskameraden, einem Radargasten namens Starkey, eine philosophische Theorie zu erklären und erregten sich mehr und mehr darüber. Starkey konnte oder wollte nicht begreifen, was sie ihm klarzumachen versuchten.
»Begreifst du denn nicht«, redete Jesse auf ihn ein. »Ich sage ›Guten Morgen‹ zu dir, klar? Aber du hörst nicht ›Guten Morgen‹ – du hörst nur, was du hören willst, und deshalb hörst du ›Wie geht's?‹ Du antwortest also: ›Danke, ausgezeichnet, und wie geht es dir?‹, aber ich höre statt dessen ›Ein hübscher Tag, nicht wahr?‹ und sage meinerseits ›Ein ausgesprochen hübscher Tag‹, aber du hörst nun wieder ›Schnupfen habe ich, kann sonst nicht klagen.‹ Begreifst du das? Desgleichen ist möglich. So etwas gibt es, Ehrenwort.«
»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Starkey. »Wenn wir nur hörten, was wir hören wollen – du lieber Gott, dann sähen wir ja auch nur, was wir sehen wollen.«
»Warum nicht?« sagte Jesse. »Weshalb sollte es das nicht auch geben? Willst du etwa behaupten, wir alle sähen die Dinge auf die gleiche Art?«
»Nein, aber wenn wir beide einen Apfel sehen, dann wissen wird doch schließlich, daß es ein Apfel und keine Orange ist.«
»Woher willst du wissen, ob wir beide unter einem Apfel ein und dasselbe verstehen?« fragte Buddwing.
»Wie meinst du das?«
»Woher willst du wissen, daß ein Apfel für mich keine Orange ist?«
»Weil ein Apfel ein Apfel ist, das ist doch klar.«
»Und wenn ich nun gerade gehört habe: ›Eine Orange ist eine Orange‹?«
»Aber das habe ich doch nicht gesagt.«
»Weißt du genau, daß du das nicht gesagt hast? Und weißt du genau, daß du gehört hast, was ich gesagt habe?«
»Schließlich habe ich Ohren, nicht wahr?«
»Richtig, du hast eine Nase.«
»Ich habe Ohren gesagt.«
»Genau das habe ich gehört: du hast Nase gesagt.«
»Begreifst du denn nicht, worauf er hinaus will?« sagte Jesse erbittert zu Starkey.
»Klar, er will darauf hinaus, daß sie mich in die Klapsmühle stecken«, erwiderte Starkey.
»Er versucht dir etwas zu erklären, du Trottel!«
»Er versucht mir zu erklären, daß alles, was ich höre und sehe, nicht das ist, was ich höre und sehe. Begreifst du das etwa, verdammt noch einmal?«
»Aber sicher begreife ich das«, sagte Jesse.
»Also, ich glaube, euch beiden bekommt das Klima nicht«, sagte Starkey, streckte sich in seiner Koje aus und drehte ihnen den Rücken zu.
Sie verließen das Logis und standen schließlich auf dem achteren Flaggendeck. Der Krieg war vorbei, die Fancher führte wieder Positionslampen, und sie standen im Halbdunkel neben den aufgestapelten Abfalltonnen, erregt flüsternd, in eine hochspekulative philosophische Diskussion verstrickt, für die sie beide nicht das nötige Rüstzeug besaßen. Jetzt, da er sich dieser Nacht entsann, war ihm klar, daß ihre Theorie nur scheinbar der Wahrheit entsprochen hatte. Und dennoch hatten sie einander verstanden. Mehr noch: jeder hatte begriffen, was der andere zu ihm sagte. Hätten sie ihre eigene Theorie ernst genommen, so wären sie zu der Annahme gezwungen gewesen, daß alle Äußerungen, die Jesse tat, dem Lauf eines Dialogs folgten, der sich von jenem anderen Dialog, an dem
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