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Schockstarre

Schockstarre

Titel: Schockstarre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Schmöe
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die kreisrunde, golden glänzende Scheibe. Die Schritte hinter sich hörte sie zu spät. Ein unsäglicher Schmerz zerriss ihren Hinterkopf. Sie hatte noch Zeit, ihr eigenes Erstaunen zur Kenntnis zu nehmen, bevor sie an dem Wappenpfahl vorbeiflog, dabei einmal um die eigene Achse gewirbelt wurde und den Schnee vor ihren Augen schwarz werden sah.
    Sie trieb über ein dunkles, bewegungsloses Meer. Rote, violette, weiße und gelbe Lichter jagten auf sie zu, viereckig, rasend schnell wie in einem außer Kontrolle wirbelnden Kaleidoskop. Katinka öffnete die Augen. Die bunten Vierecke blieben. Sie ließen die Umgebung hinter einem feinen, blinkenden Vorhang verschwimmen.
    Dann gab es da ein Geräusch. Katinka hob den Kopf und wurde sofort von einer Welle aus rasendem Schmerz überspült. Sie ließ den Kopf sinken und überließ sich für eine Weile den zerrissenen Gedankenfetzen, die über sie hinwegbrandeten, sich an den Burgmauern brachen und zurückkehrten. Das Geräusch irritierte sie. Sie brauchte eine Weile, bis sie bemerkte, dass sie ihre Zähne klappern hörte. Sie flehte die Vierecke an, zu verschwinden. Umsonst.
    Ihr Zeitgefühl war außer Dienst. Sie stellte nüchtern fest, dass sie in einem Schneehaufen lag, dass die Kälte und die Nässe durch ihre Kleider drangen, und dass sie nicht mehr lange durchhalten würde.
    Vorsichtig richtete sie sich auf, stemmte sich gegen den Schmerz. Ihr Kopf rammte gegen die Burgmauern, die Bäume, gegen die Dächer und den Himmel. Die Vierecke kamen wie Schneeflocken auf sie zugestürmt, verloren sich, kamen zurück, rasant, unaufhaltsam. Sie richtete sich auf, der Wind wehte sie ein Stück weiter, panisch taumelte Katinka auf den Torbogen zu. Sie stieß gegen eine kalte, feuchte Mauer, tastete sich weiter. Ihr Schal rutschte von ihren Schultern, ihre Füße verhedderten sich darin. Sie bückte sich, um den Schal aufzuheben, und fiel hin. Rutschte ein Stück auf dem glatten Boden. Unbeirrt stürmten die Vierecke auf sie ein, bunt, grell, gleißend. Sie musste durch das Burgtor kommen. Sie musste einfach. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, wie lange sie da im Schnee gelegen hatte und, ob noch jemand hier oben im Burghof oder in den Gebäuden war. Sie musste um alles in der Welt das Tor offen vorfinden. Ihre Hände tasteten über den Boden, bekamen den Schal zu fassen. Angespannt sah sie sich um. Sie war gegen etwas gestoßen, das aussah wie ein kleines Haus. Ausgang , entzifferte Katinka ein Schild und folgte den Treppen. Die Stufen waren steil und eng. Katinka drehte sich um und kletterte rückwärts hinunter, wie eine Leiter. Über ihr baumelte knirschend die gläserne Leuchte an ihrem schmiedeeisernen Haken. Übelkeit überkam sie.
    Sie erreichte den breiten, gebogenen Durchgang. Ließ sich treiben, der Gang fiel leicht ab. Hoch oben schwebte das Gittertor, sie sah die Zacken jenseits der wirbelnden bunten Formen vor ihren Augen. Halb blind streckte sie die Arme nach vorne, taumelte weiter, sah Wolken über einen dunklen Himmel treiben, trat ins Freie. Sie spürte den kalten Wind, und obwohl sie fror und spürte, dass die Kälte sie Stück für Stück auffraß, weinte sie vor Erleichterung, nicht eingeschlossen worden zu sein. Sie lehnte sich gegen die Brüstung und übergab sich in den Burggraben. Da kam nicht viel. Reste ihres spartanischen Mittagsimbisses.
    Die Vierecke wehten nun weniger stürmisch auf sie zu. Katinka tastete nach ihren Manteltaschen. Da war der Autoschlüssel. Geldbeutel. Kein Handy. Vielleicht lag das im Auto. Sie stöhnte auf. Kramte vergeblich nach der Erinnerung, wo sie das Auto abgestellt hatte.
    Sie ging los, torkelnd wie eine Betrunkene. Über die Brücke, durch einen weiteren Torbogen, an dem Wachtürmchen vorbei. Wolken trieben über ihr. Eiskalter Wind verwuschelte ihr das Haar. Die Kälte tat ihrem Kopf gut, der Schmerz ließ nach. Sie hielt sich an einer Schautafel fest und würgte. Betrachtete desinteressiert das Plakat, das für einen Besuch der Kunstsammlungen warb.
    Sie ging weiter, zog den Schlüsselbund heraus und betätigte den automatischen Türöffner. Versuchte es einmal, zweimal. Beim dritten Mal sah sie die gelben Lichter aufblinken. Erst, als sie vor ihrem Wagen stand und den Türgriff kaum bedienen konnte, fiel ihr auf, wie heftig sie zitterte. Ihre steifgefrorenen Finger wollten die Tür nicht öffnen.
    »Verdammt«, schrie Katinka über den leeren Parkplatz. Ihre Stimme kam lauter aus ihrem Hals, als sie gedacht hatte.

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