Schockstarre
gibt’s einfach nicht. Das war nicht Hartmanns mürrischer Bass, der durch die Nebelwolken wallte, sondern eine helle, samtige Stimme. Thurid Maas.
20. Gottes Gedanken
Hardo und Katinka starrten einander für einen Augenblick entgeistert an.
»Thurid!«, rief Katinka. »Das hat keinen Sinn! Sie …«
Ein neuer Schuss war die Antwort. Katinka richtete sich auf und wisperte in Hardos Ohr:
»Thurid? Warum Thurid!«
Er zuckte die Achseln.
»Haben Sie eine Ahnung?«, fragte er.
Katinka lehnte den Kopf an die kalte Mauer. Einige Male atmete sie tief durch. Thurid Maas lauerte ihnen mit einem Schießeisen auf der Veste auf. Das reimte sich in Katinkas Ohren nur mit einem: Thurid hatte Mendel erschossen. Nicht der Unsympath Hartmann, sondern die zierliche Thurid, Mendels Schützling. Ka-tinka ging durch den Kopf, was sie sich die ganze Zeit über den Mord an Mendel gedacht hatte: Nur jemand, der von großer Verzweiflung getrieben wurde, mochte die Kaltblütigkeit aufbringen, sein Opfer erst aus der Ferne anzuschießen und dann zu exekutieren.
»Warum?«, flüsterte Katinka.
»Reden Sie mit ihr!«, befahl Hardo. »Sie darf sich uns nicht nähern. Wenn sie redet, orten wir vielleicht ihren Standpunkt. Machen Sie schon.«
»Aber ich …«
»Reden Sie. Von Frau zu Frau.«
Katinka holte tief Luft und kroch ein paar Zentimeter näher an den Ausgang des Wachtürmchens heran. Sie spürte, wie Hardo mit seiner Pistole in den Nebel zielte.
»Los!«, kommandierte er.
»Thurid«, rief Katinka und räusperte sich, um ihre Stimme ruhig zu halten. »Thurid.«
Ein vierter Schuss. Hardo drückte Katinkas Schulter.
»Ich verstehe Sie, Thurid!«, rief Katinka. »Es war der Druck, oder? Seinem Druck konnten Sie nicht standhalten.«
Wie im Fieber suchte Katinka nach Worten, verzweifelter noch nach all dem, was Thurid ihr in ihrem bullig warmen Wohnzimmer über sich und Mendel erzählt hatte. Mendel, der Mentor, der sie in eine berufliche Richtung presste, die nicht ihre war. Der ihr ein Leben nach seinen eigenen, verpassten Plänen aufdrückte.
»Sie müssen verzweifelt gewesen sein«, schrie Katinka durch den Nebel. »Sie sahen keinen Weg, sich dem Druck zu entziehen, dem Mendel Sie ausgesetzt hat, war es so?«
Stille. Katinka zitterte vor Kälte und Anspannung. Hardo drückte sie mit seinem Rücken gegen die Mauer. Das wärmte sie ein wenig. Weiterreden, dachte sie.
»Es ist nicht schön, wenn andere über das eigene Leben entscheiden wollen, oder?«
»Nein. Ganz und gar nicht.«
Thurids Stimme kam jetzt aus einer anderen Richtung. Schwer zu orten im Nebel.
»Wo ist sie?«, wisperte Katinka.
»Weiter. Machen Sie weiter!«
»Ich kann das nachvollziehen«, rief Katinka. »Ich habe mich immer selber entschieden für das, was ich tun wollte. Einigen Leuten hat das nicht gepasst, und sie ließen es mich ziemlich unsanft spüren.« Sie wartete einen Augenblick, aber es kam keine Reaktion.
»Sie findet heraus, wo wir sind«, flüsterte Hardo. »Ich wechsle die Position. Reden Sie weiter.«
»Nein! Sie wissen doch nicht, wo Thurid steckt. Wenn Sie da rausgehen, laufen Sie über das Silbertablett. Da muss sich nur der Nebel ein paar Sekunden verziehen, und schon sind Sie …«
»Sie reden weiter, zu zweit nehmen wir sie in die Zange. Halten Sie durch, gleich kommt Schilling mit seinen Leuten. Nur noch ein paar Minuten. Los!«
Er duckte sich wie ein Läufer am Startblock.
»Ich weiß, wie schwer es ist, sich mit den eigenen Vorstellungen durchzusetzen«, schrie Katinka ihr Entsetzen in die Nebelnacht hinaus. Jetzt, da Hardo sie nicht mehr mit seinem breiten Rücken beschirmte, drang die kalte, neblige Feuchtigkeit mit Macht auf sie ein. Der Nebel streckte seine weißen Finger durch die Schießscharten. »Es gibt immer jemanden, der vorgibt, alles besser zu wissen. Umso wichtiger ist es jetzt, dass Sie sich gute Voraussetzungen schaffen. Wir können Ihnen helfen! Ein guter Anwalt wird auf die desolate Situation hinweisen, in der Sie steckten.«
»Da gibt es nicht mehr viel rauszuholen«, erwiderte Thurid, und zu Katinkas Grauen klang sie sehr nah. Hardo startete. Er rannte wie ein Hase, geduckt und in Haken, und wurde vom Nebel verschluckt. Das plötzliche Alleinsein versetzte Katinka in Panik.
»Erzählen Sie es mir, Thurid. Erzählen Sie, wie Mendel Sie gepiesackt hat.«
»Ich habe den Job bekommen«, kam es aus den Nebelschwaden.
»Den in Hamburg?«
»Ja!« Nun kam Thurids Stimme aus einer ganz anderen
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