Schön scheußlich
Künstler, den der Arzt nie persönlich gekannt hat, oder einer gemalten Figur, die ihm nicht einmal mitteilen kann, wo es wehtut, ein Syndrom anzuhängen, auch zu abwegigen und sogar verderblichen Vorstellungen über die Kunst und den Künstler geführt. Als sich die moderne Kunst beispielsweise mehr und mehr von der figürlichen Darstellung entfernte, versuchten viele, sie als Produkt kranker Gehirne abzutun. Sie holten die Meinung von Ärzten und Psychiatern ein, die ihnen bestätigten: Jawohl, dieser und jener Künstler leidet in der Tat unter einer Geistesstörung. Kunst- und Medizinhistoriker arbeiten noch immer daran, ein für alle Mal einen besonders berühmt gewordenen Versuch, die Arbeit eines Künstlers per Ferndiagnose zu interpretieren, als falsch zu entlarven. Im Jahr 1913 äußerten Pariser Ärzte die Vermutung, EI Greco habe seinen Figuren womöglich deshalb stets die charakteristische lang gestreckte Gestalt verliehen, weil er unter einer Hornhautverkrümmung litt, die bei ihm einen Astigmatismus verursacht hatte. Bei manchen Fällen von Astigmatismus wirken nach der Korrektur durch eine Brille alle Gegenstände in eine Richtung leicht verlängert, in die andere leicht gestaucht.
Doch wie Ophthalmologen und andere seither wiederholt erklärt haben, ist diese Theorie über EI Grecos Sehfähigkeit Unsinn. Zunächst einmal sieht jemand mit einem Astigmatismus, der keine korrigierenden Gläser trägt, die Gegenstände nicht verlängert, sondern eher verschwommen, und zu EI Grecos Zeiten gab es für dieses Leiden keine korrigierenden Linsen. Röntgenbilder von seinen Gemälden zeigen außerdem, dass sich unterhalb der gemalten Figuren Zeichnungen von eher naturalistischer Komposition befinden, sodass anzunehmen ist, dass der Künstler seine Motive beim Aufbringen der Farbe absichtlich gestreckt hat, höchstwahrscheinlich, um ihnen eine ätherische Dimension zu verleihen.
Auf sichererem Terrain bewegen sich die Leinwandmediziner, wenn sie die Arbeit eines Künstlers im Zusammenhang mit zeitgenössischen medizinischen Dokumentationen betrachten. In einer solchen Untersuchung analysierten Ärzte, wie Monets fortschreitende Starerkrankung die künstlerische Entwicklung des großen Meisters beeinflusste. Monets Krankheit wurde 1912 diagnostiziert; damals war er zweiundsiebzig. Doch in Anbetracht ihres allmählichen und schleichenden Verlaufs ist anzunehmen, dass die Krankheit mit ziemlicher Sicherheit viele Jahre früher eingesetzt hatte. Gegen Ende des Jahrhunderts wurden seine Bilder verschwommener und undeutlicher; sie enthielten weniger Details. Die Farben gingen sämtlich ins Gelblichbraune, das ist der Farbbereich, der Menschen mit grauem Star am besten zugänglich ist. Violett-und Blautöne sind für sie am schlechtesten sichtbar. Monet selbst beschrieb die Veränderung seines Sehvermögens im Jahr 1918 einem Reporter gegenüber so: »Ich malte Licht nicht mehr mit derselben Genauigkeit. Rottöne erschienen mir trübe, Rosatöne fade, und Zwischentöne oder dunklere Farben entzogen sich mir ganz.«
Im Jahr 1922 war Monet eigentlich blind. Er nahm wohl noch Licht wahr, erkannte aber so gut wie keine Formen oder Farben mehr. Nach der Staroperation an seinem rechten Auge kehrte seine Fähigkeit, Blautöne wahrzunehmen, mit solcher Vehemenz zurück, dass er die Brillanz der Farben zunächst nicht ertrug und gelb getönte Brillengläser tragen musste. In den letzen vier Lebensjahren vollendete Monet seinen Seerosenzyklus, und einige der Gemälde schimmern in sanften, üppigen Blau-und Lavendeltönen.
Edgar Degas hat in fortgeschrittenen Jahren womöglich ebenfalls an einer Augenkrankheit gelitten, und zwar an einer Makula-Degeneration, die bestimmte Bereiche der Netzhaut befällt. Bei jemandem mit dieser Krankheit geht das zentrale Gesichtsfeld verloren, das periphere Gesichtsfeld bleibt erhalten, und in Degas' späten Gemälden sind Leben, Formen und Bewegung an den Rändern betont dargestellt, während die Bildmitte undeutlich, fast unwichtig wirkt.
Ärzte erfreuen sich auch an der Analyse von Bildern, die ihren eigenen Beruf illustrieren. Der amerikanische Realist Thomas Eakins studierte Medizin, bevor er sich der Kunst zuwandte. Er malte eine berühmt gewordene Szene in einem Operationssaal, in der die Ärzte einem Jungen ein Stück Knochen aus dem Oberschenkel entfernen, während die Mutter danebensitzt. Was die zugrunde liegende Krankheit betrifft, so haben Ärzte spekuliert, dass der Junge
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