Schön scheußlich
womöglich unter einer Knochenmarkentzündung oder Myelitis gelitten haben könnte, in deren Verlauf Knochenstücke absterben und von Eiter umgeben in einer Art Tasche im Gewebe lagern. Da das Gemälde zu Beginn des Jahrhunderts entstand, ist zu vermuten, dass die Ursache für die Knochenentzündung Tuberkulose gewesen ist.
Die vielleicht berühmteste Darstellung eines Arztes stammt von dem englischen Künstler Sir Luke Fields und heißt schlicht und einfach The Doctor. Sie zeigt einen Arzt, der auf einem Stuhl sitzt und ein Kind betrachtet, das auf zwei Stühlen ausgestreckt schlummert; die Eltern im Hintergrund schauen zu. Obwohl er eindeutig nicht viel für seinen jungen Patienten tun kann, ist der Blick des Arztes von vager Hoffnung erfüllt. Durch das Fenster dringt soeben das erste Licht des Tages - möglicherweise eine optische Metapher, die illustrieren soll, dass für das Kind das Schlimmste überstanden ist. Um welche Krankheit es sich gehandelt haben mag, ist unbekannt. Es wird jedoch spekuliert, dass es sich um eine plötzliche Infektion im Kindesalter gehandelt haben könnte, um Scharlach vielleicht oder um eine Lungenentzündung.
Auch viele Künstler ohne medizinische Ausbildung zeigten sich von Krankheiten und Missbildungen fasziniert. Velazques war berühmt für seine Darstellungen von Zwergwüchsigen, Krüppeln und Kindern mit auffälligen Geburtsfehlern. Die Schwester des norwegischen Expressionisten Edvard Munch starb an Tuberkulose, und er malte eine Reihe von Krankenbildern, unter anderem eines, das die Schwester eines guten Freundes zeigt. Das Mädchen sitzt mit geröteten Wangen in eine Wolldecke gehüllt, seine Hand umklammert eine einzelne Blume. Es scheint an einer Krankheit zu leiden - unter Tuberkulose vielleicht, die damals in Skandinavien weit verbreitet war. Kunsthistoriker haben lange um die Bedeutung der Blume gestritten. Die einen sehen sie als Symbol der Hinfälligkeit des Mädchens und als Zeichen des nahenden Todes, andere halten sie für ein Zeichen der Hoffnung.
Doch bei jeder noch so klugen Diagnose läuft der Arzt nichtsdestotrotz Gefahr, den großen Kontext zu vernachlässigen, in dem das Meisterwerk in all seiner Erhabenheit steht. Man weiß, dass Ärzte sich über Michelangelos römische Pieta beklagt haben, weil sie angeblich anatomisch inkorrekt sei. Sehen Sie Christi Arme an, sagen sie. Er soll tot sein, doch die Venen seiner Arme und Hände sehen aus, als seien sie mit Blut gefüllt. Jeder sollte wissen, so fahren sie fort, dass die Venen an der Peripherie sich sofort abplatten, wenn das Herz zu schlagen aufhört. Diese Kritik bringt Kunsthistoriker in Rage, die wissen, dass Michelangelo sorgfältig Leichen untersucht und seziert hat, um die Feinheiten des menschlichen Körpers zu studieren. Und sie sind sich gleichermaßen bewusst, dass Michelangelo keinerlei Interesse daran hatte, Jesus als ganz gewöhnliche Leiche darzustellen, als er die Pieta schuf. Man muss vielmehr die aufschlussreichen Details betrachten, die Geschichte der Auferstehung, die sich in der Kreuzigungsgeschichte verbirgt. Jesu rechte Hand hält Marias Gewand, eine Geste der Liebe, wie die eines Kindes. Und auch die Haltung seiner anderen Hand wirkt fast wie eine Geste, und, jawohl, die Venen sind mit Blut gefüllt. Die Diagnose: Aus Tod wird Leben hervorgehen, und der Menschheit tiefster Gram trägt in sich die Saat ihrer höchsten Freude.
33.
Vom Wahnsinn zum Kunstwerk
Solange es Dichter gab, die die Dunkelheit mit ihren diamantenen Gesängen durchdrangen, und Maler, die die Sonnenstrahlen auf den kühlen Steinen einer Kathedrale einfangen konnten, und Künstler aller Glaubensrichtungen, die sich den Göttern nahe fühlten und dieser Nähe beredten Ausdruck verliehen, so lange gab es auch Gesellschaftskritiker, die feststellten, dass ein großer Haufen von diesen kreativen Typen nicht ganz richtig im Kopf sei.
Aristoteles fragte im vierten Jahrhundert vor Christus, warum alle Männer, die in Philosophie, Dichtkunst oder anderen Künsten Herausragendes leisteten, Melancholiker sein müssten. Zweitausend Jahre später schrieb der englische Dichter John Dryden: »Ein großer Geist ist stets dem Irrsinn eng verwandt, und schmaler Grat nur trennt ihr festes Band« - ein hübscher Reim, der seither zu dem armseligen Klischee verkommen ist: »Genie und Wahnsinn liegen nahe beieinander.« Doch wie jedes Klischee, das der Wiederholung wert ist, so enthält auch dieses ein beträchtliches
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