Schön scheußlich
Leiden. Die eine stellte fest, er habe unter der Ménière-Krankheit gelitten, einer Innenohrerkrankung, die mit starken Schwindelanfällen verbunden ist und den Künstler womöglich dazu veranlasst hat, Hand an sein Ohr zu legen. Die andere vertrat die Ansicht, der niederländische Meister habe unter akuter hepatischer Porphyrie gelitten, einer erblichen Stoffwechselkrankheit, durch die es unter anderem zu Halluzinationen, Verwirrung, Depressionen, Krämpfen, Koliken und anderen Symptomen kommt, über die van Gogh häufig geklagt hat - und die rein zufällig durch Fasten, übermäßigen Alkoholkonsum und das Einatmen von Farbdämpfen verstärkt wird.
Die jüngsten Einträge unter der Rubrik »Van-Goghs-Krankheit-des-Monats« gehören zu einer fortdauernden Übung, die gewisse ästhetisch interessierte Ärzte vielleicht aus Gründen des Gehirntrainings betreiben oder vielleicht auch, um der Naturgeschichte von Krankheiten auf die Spur zu kommen. Das Spiel heißt »Leinwanddiagnose«. Da gibt es beispielsweise einen Ansatz, bei dem die Ärzte versuchen, die Krankheit eines Künstlers zu diagnostizieren oder ihr Fortschreiten einzuschätzen, indem sie aufschlussreiche Details seiner Arbeiten bewerten: die Wahl der Farben, der Perspektive Und des Motivs. Mit dieser Art von Analyse gelangte man beispielsweise zu der Vermutung, dass Claude Monets beidseitiger grauer Star, durch den er fast erblindet wäre, und die schließlich erfolgte Augenoperation großen Einfluss auf die Entstehung seiner Seerosenbilder gehabt haben und dass Goya in seinen Darstellungen wahnsinniger und gemütskranker Menschen seinen eigenen Gefühlen hinsichtlich seiner zunehmenden Taubheit Ausdruck verliehen hat.
In der zweiten Variante dieses Zeitvertreibs untersuchen Ärzte abnorm oder missgestaltete Individuen in einem Kunstwerk und versuchen, die abnorme Erscheinung des Dargestellten über eine medizinische Diagnose zu erklären. Beim Anblick der deutlich knotig verformten Hand der Frau in Corots Gemälde Mädchen mit Mandoline gelangten zwei Ärzte und ein Kunststudent zu der Vermutung, die Musikerin müsse unter rheumatoider Arthritis gelitten haben, einer zerstörerischen Autoimmunkrankheit, die vor allem bei jungen Frauen häufiger diagnostiziert wird. Des Weiteren argumentierten sie, Corot habe deshalb die Hand in so entstellender Weise dargestellt, weil er selbst an einer Gelenkerkrankung gelitten habe - er hatte Gicht - und von den Symptomen dieser Krankheit besessen gewesen sei.
Gelegentlich versetzen künstlerische Darstellungen einer bestimmten Krankheit die Medizinhistoriker in die Lage einzuschätzen, wann und in welchem Ausmaß eine Krankheit sich beispielsweise in einer bestimmten Population ausgebreitet hat. Die rheumatoide Arthritis beispielsweise ist eine genetisch bedingte Erkrankung. Die Tatsache, dass die mit ihr verbundenen Verformungen vor dem Jahr 1800 in keinem europäischen Kunstwerk auftauchen, hat die Rheumatologen zu der Theorie veranlasst, dass die entsprechende Mutation vor diesem Zeitpunkt in Europa selten oder gar nicht vorhanden gewesen ist. Die anonymen Maler und Bildhauer im alten Ägypten und in Mittelamerika stellten eine Reihe von genetisch bedingten Erkrankungen mit einer solchen Präzision dar, dass man sie noch immer bei der Ausbildung von Medizinstudenten heranzieht. Zu den herausragendsten Beispielen gehört die erste bekannte Darstellung des Retinoblastoms, eines erblichen Augentumors, der sich, wie ein Maya-Bildhauer es überaus plastisch darstellte, im Endstadium zu einer umfangreichen Gewebemasse auswächst, die aus der Augenhöhle tritt.
Die meisten Kunstliebhaber unter den Ärzten erklären, dass sie die Leinwanddiagnostik weniger aus wissenschaftlichen Gründen betreiben würden, sondern weil sie einen unwiderstehlichen Zeitvertreib darstelle. Sie fühlen sich den Künstlern verwandt, denn ein guter Diagnostiker erfasst genau wie ein Maler die winzigen aufschlussreichen Details, die dem ungeschulten Auge in der Regel entgehen. Bei der Diagnose einer Krankheit sucht der Arzt nach einer leichten Verfärbung des Teints, nach der Delle im Fingernagel, nach erweiterten Kapillaren der Hautoberfläche. Wenn also ein Arzt bemerkt, dass ein Künstler in seinem Gemälde dieselben Symptome darstellt, kann er kaum umhin, die Leinwand als seinen Patienten zu betrachten, der stumm darauf wartet, seine professionelle Meinung zu hören.
Bei allem Vergnügen, das sie vermittelt, hat die Versuchung, einem
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